Verona für Fortgeschrittene
mit Zug, Züglein und sehr viel Cola
Der Roadtrip geht weiter – heute mal multimodal. Fahrrad, Zug, Bus, Touristenzug, nochmal Bus, nochmal Zug, wieder Fahrrad. Klingt wie eine Prüfung im Fach „Urlaubslogistik für Fortgeschrittene“, war aber in Wirklichkeit ganz einfach – wenn man ein klares Ziel vor Augen hat: Verona.
Der Tag begann – wie so oft – mit der klassischen Rollenverteilung: Stefan holt Brötchen, ich halte die Stellung – und die Kamera. Während er also in der Morgensonne zum Bäcker radelte, stand ich am See und machte dieses Bild:

Der Gardasee zeigte sich an diesem Morgen von seiner fotogenen Seite. Die Sonne kämpfte sich durch ein paar hartnäckige Wolken, am Horizont glitzerte das Wasser – perfekte Kulisse für einen ersten Kaffee mit Aussicht. Während Stefan also Brötchen organisierte, stand ich am Ufer, genoss die Ruhe – und drückte auf den Auslöser. Klick. Gardasee. Gespeichert.
Dann: Frühstück. Kaffee. Fahrrad satteln. Und los.
Wir radelten nach Desenzano – Sonne im Gesicht, Wind im Fahrtwind und ein Ziel vor Augen: Verona. Am Bahnhof rollte um 9:49 Uhr der grün-blaue Zug ein – pünktlich auf die Minute. Ich wiederhole: pünktlich. Als Lokführerin sage ich das nicht leichtfertig. In Deutschland wäre so ein Moment ein Fall für den internen Sondernewsletter. Hier in Italien? Einfach Alltag. Man staunt – und steigt ein.
Im Gepäck: Vorfreude auf Kopfsteinpflaster, Pasta und mindestens drei Kugeln Gelato – die wichtigsten kulturellen Highlights gleich vorneweg.
Nach der Ankunft in Verona Porta Nuova ging’s nahtlos weiter: einmal quer über den Busbahnhof, rein in den nächsten Bus mit der bewährt knalligen Lackierung – und ab Richtung Arena.
Keine Umwege, keine Orientierungspanik – nur der direkte Weg mitten hinein in das warme Herz dieser Stadt, wo sogar ägyptische Pharaonen in XXL vor der Bahnhof posieren (ja, wirklich – siehe Beweisfoto). Shakespeare hätten wir an dieser Stelle gar nicht gebraucht. Verona liefert auch so.
Und so standen wir kurze Zeit später zwischen den mächtigen Steinbögen der Arena von Verona. Dieses römische Amphitheater – beeindruckt nicht nur durch seine Größe, sondern vor allem durch diese eigenartige Mischung aus antiker Wucht und moderner Bühnenromantik.
Man spürt den Atem der Geschichte. Damals: Gladiatoren, Staub, Schwerter, tosender Applaus (oder Todesurteile). Heute: Bryan Adams auf Welttournee, Sitzkissen-Verleih, Lichtprobe um 17 Uhr. Die Arena hat vieles gesehen – und das meiste davon vermutlich ohne Bühnennebel.
Wir blieben einen Moment einfach stehen, ließen die Atmosphäre auf uns wirken. Diese roten Tore, die monumentalen Bögen, der weite, halbmondförmige Platz davor, auf dem die Touristen kreuz und quer liefen wie Statisten in einem Historienfilm, der noch nicht ganz weiß, welches Jahrhundert er gerade darstellen will.

Nächster Stopp: Giulietta. Das berühmteste Balkonzimmer der Literaturgeschichte – und eine der meistfotografierten Bronzestatuen Italiens. Stefan beschloss direkt am Eingang: „Ich fass ihr nicht an die Brust.“ Ein Satz, den man auch nicht alle Tage sagt, aber in diesem Hof mit den tausend Selfie-Stangen, Blitzlichtern und albernen Touristenposen hat er durchaus Relevanz.
Und siehe da – diesmal entging uns auch nicht die Wand voller Liebesbriefe. Beim letzten Besuch waren wir entweder von der Familie abgelenkt, vom Waffelduft benebelt oder schlicht zu gestresst von der Menschenmasse. Jetzt aber: kein Gedränge, kein Selfie-Chaos – nur wir, ein paar verstreute Verliebte und eine erstaunlich bunte Wand, an der es flimmert, klebt, flattert und glitzert.
Zettel über Zettel, Kaugummiherzen, Schlösser, Sticker, Post-its und Liebesschwüre in 42 Sprachen – eine Art UNESCO-Welterbe der romantischen Kurzform. Wir lasen, lachten, staunten. Und fragten uns kurz, ob Giulietta wohl irgendwann die Schnauze voll hatte von all den Dramen. Oder ob sie einfach das beste Gelato der Stadt verdient hätte – nach all dem Chaos, das man ihr angedichtet hat.
Was hat es mit den Brüsten von Giulietta auf sich?
Nun, im Innenhof der Casa di Giulietta steht eine Bronzestatue von Julia, also Giulietta, Shakespeares tragischer Heldin. Und weil der Mensch an sich gerne Traditionen schafft – gerade auf Reisen – hat sich dort im Laufe der Jahre ein durchaus… sagen wir mal… körperbetontes Ritual entwickelt:
👉 Wer Giulietta die rechte Brust reibt, dem soll Glück in der Liebe winken.
So jedenfalls die inoffizielle Touristenlegende.
Das Ergebnis: Die rechte Brust glänzt wie frisch poliert, während der Rest der Statue eher bronzebraun patiniert vor sich hin oxidiert. Ein seltsames Schauspiel zwischen Aberglaube, Gruppenzwang und Selfie-Wahn. Und so stehen täglich zig Menschen dort – von kichernden Teenagern bis zu peinlich berührten Eltern – und überlegen, wie viel Liebe sie sich wohl für einen kurzen Griff erkaufen könnten.
Stefan jedenfalls hat sich standhaft geweigert.
„Ich fass doch hier keiner wildfremden Bronze an die Brust, nur weil das alle machen“, meinte er – und tat stattdessen etwas sehr viel Romantischeres:
Er reichte mir ein Taschentuch. Weil mir beim Lachen fast die Tränen kamen.
Nächster Stopp: Piazza delle Erbe. Oder, wie man auch sagen könnte: Veronas Wohnzimmer. Nur ohne Couch, dafür mit Olivenöl, T-Shirts, Magneten und sehr vielen Menschen mit Kamera.
Wir schlenderten über den Platz, der irgendwie alles gleichzeitig ist: Antike Kulisse, Touristenmagnet und Einkaufsparadies. Zwischen all den Marktständen tummelten sich Händler mit Souvenirs in sämtlichen Qualitätsstufen – von „gar nicht mal so hässlich“ bis „WTF – ein römischer Helm als Flaschenöffner?“
Dazwischen flatterten Tücher, blinkten Kühlschrankmagneten, baumelten Masken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie venezianisch oder Halloween sein wollten. Und doch hat der Platz Charme. Viel sogar.
Vielleicht liegt’s an der Architektur, an den verwitterten Fassaden mit Fresken aus vergangenen Jahrhunderten oder an der Aussicht auf den Torre dei Lamberti, der über allem thront wie ein aufmerksamer Beobachter mit Hang zur Höhenluft. Wir gönnten uns eine kleine Pause. Einfach sitzen, schauen, Leute beobachten.
Die einen hasteten durch, auf der Jagd nach der besten Perspektive fürs Gruppen-Selfie. Die anderen hatten schon das zweite Gelato in der Hand und keine Eile mehr. Dazwischen wir – zufrieden, hungrig, leicht überfordert vom Angebot und in bester Urlaubslaune.

Danach ging’s weiter Richtung Ponte Pietra, der ältesten Brücke Veronas – und ganz offensichtlich auch einer der stolzesten. Sie führt mit lässiger Selbstverständlichkeit über den türkisfarbenen Etsch-Fluss, als wolle sie allen Neubauten in der Umgebung zurufen: „Seht her, Kinder – so geht langlebig.“
Wir schlenderten gemütlich in ihre Richtung, vorbei an kleinen Restaurants mit rot-weiß karierten Tischdecken, menütafelbeschrifteten Kellnern und verführerischen Gerüchen aus der Küche. Unser Magen mischte sich jetzt ebenfalls aktiv ins Tagesprogramm ein.
Also Stopp im „Ristorante Latteria“ – ein bodenständiges, charmantes Lokal mit viel Holz, wenig Schnickschnack und einer Speisekarte, die mehr versprach, als sie überforderte. Stefan bestellte Spaghetti, wie er es in Italien immer tut, sobald er die Worte „al dente“ auf einer Karte sieht.
Ich entschied mich für Lasagne – heiß, käsig, großzügig. Eine kleine kulinarische Umarmung, die nicht fragt, ob man noch Kalorien übrig hat.

Dann gehen wir über die Brücke. Die Ponte Pietra, stolz und leicht schief, legt sich unter unsere Füße wie ein Stück Geschichte mit Panoramablick. Stefan bleibt im Schatten stehen – strategisch klug, wie er findet. Ich dagegen folge dem Ruf der Perspektive und biege rechts ab, immer am Ufer entlang, auf der Suche nach dem perfekten Fotospot.
Der Fluss schimmert türkisgrün, die Sonne tanzt auf dem Wasser, und die Brücke sieht aus, als hätte sie gerade eine kleine Beauty-OP hinter sich: Alt, aber gut in Form, mit fotogener Ausstrahlung und einer leichten Neigung zum dramatischen Auftritt.
Ich zücke die Kamera – beziehungsweise mein Handy, aber das klingt weniger poetisch – und halte drauf. Ein Klick, ein Bild, ein Moment.

Und irgendwo unter dem Brückenbogen ruft Stefan: „Wie lange brauchst du noch?“ Ich rufe zurück: „Nur noch eins! Also… drei.“
Weil ein tolles Bild eben nicht mit dem ersten Versuch entsteht – sondern mit Rückenlicht, Geduld und einem unauffälligen Hüpfer über ein Gestrüpp.
Dann machten wir uns an den Aufstieg zum Palast über der Stadt. Ein Weg mit Stufen. Vielen. Zu vielen.
Er schlängelte sich erst mal ganz harmlos zwischen alten Mauern und duftenden Gärten hindurch, vorbei an efeubewachsenen Zäunen, halb vergessenen Hinterhöfen und Postkartenblicken, bei denen man sich fragt, ob man sie nicht doch schon mal auf einem Kalender gesehen hat. Schon unterwegs staunten wir über die Aussicht.

Die Altstadt breitete sich unter uns aus wie ein gemaltes Puzzle in Ocker- und Terracottatönen, die Türme ragten stolz in den Himmel, und der Etsch machte seine elegante Schleife, als wolle er sich für eine Einladung zum Abendessen empfehlen.
Doch mit jedem Schritt wurden die Beine schwerer – und die Stufen nicht weniger. Und so kam es, dass uns kurz vor dem Ziel erste Menschen mit roten Wangen und eisgekühlten Getränken entgegenkamen. Ein deutliches Zeichen: Wir waren nicht mehr weit vom rettenden Wasser entfernt.
Oben angekommen suchten wir – nicht nach Instagram-Spots oder Fotopositionen – sondern nach der Quelle. Und fanden ein kleines Café. Ein echter Glücksgriff.
Castel San Pietro / Sunset Bar
Kalter Schatten, kühles Wasser und – selbstgemachtes Tiramisu, das sich auf der Zunge auflöste, als hätte es gerade selbst Urlaub. Wir saßen da, genossen, erholten uns. Und dann – dann sahen wir sie. Die Bahn. Diese schnittige kleine Standseilbahn, die ganz ohne Muskelkraft und mit Aussicht Richtung Komfortzone direkt neben dem Aufstieg verlief. Wir sahen uns an. Und dachten das Gleiche: Es hätte so einfach sein können.
Ich sagte zu Stefan: „Na gut – wenn wir schon nicht hochgefahren sind, dann fahren wir wenigstens damit runter.“ Ein Kompromiss, wie er im Lehrbuch für Beziehungsdiplomatie stehen könnte.
Doch Stefan – ganz der strategische Denker – hatte Einwände: „Ach nee… dann weiß man gar nicht, wo wir rauskommen. Nachher landen wir irgendwo ganz falsch und müssen ewig zurücklaufen.“
Ich setzte meinen überzeugendsten „Du-vertraust-mir-doch“-Blick auf – und siehe da, ich setzte mich durch. Wir stiegen in die kleine Bahn ein… und fuhren exakt dorthin, wo wir vorher hochgelaufen waren. Wirklich genau da.

„Da sind wir eben noch keuchend vorbeigekommen“, sagte ich – und musste laut lachen. Denn ja – als ich vorhin für das perfekte Brückenfoto nach rechts abgebogen war, war ich an der Bahnstation einfach vorbeigelaufen.
Kein Schild gesehen, keine Schienen wahrgenommen – nur Kamera, Motiv, Mission. Und plötzlich ergab alles Sinn. Unten angekommen gingen wir lachend los, zurück Richtung Innenstadt, ein bisschen müde, aber glücklich.
Mit Tiramisu im Bauch, 327 Fotos im Speicher – und der Erkenntnis: Verlaufen macht oft die besseren Geschichten.
Unten angekommen ging es noch ein letztes Mal durch die Altstadt. Ein bisschen Bummeln, ein bisschen Durchatmen, ein letzter Blick auf die alten Mauern, die verzierten Fenster, die verwinkelten Gassen – und ein Eis. Also, für Stefan.
Ich war noch immer im Lasagne-Delirium, zu satt zum Genießen, aber in dieser Stadt reicht es ja schon, wenn man einfach nur dasitzt und schaut.
Dann die spontane Entscheidung: Wir zogen die Rückfahrt zwei Stunden vor – die Sonne hatte sich inzwischen in eine Art Grillfunktion geschaltet, und unsere Energielevel bewegten sich irgendwo zwischen halbdurch und bitte nicht mehr bergauf.
Noch Zeit bis zur Abfahrt? Na gut. Wir riskierten einen Versuch mit einem dieser Touristenzüglein – obwohl wir aus Bardolino (letztes Jahr) eigentlich klüger hätten sein müssen.
Chance auf Rehabilitation? Leider nein. Die Route führte nicht etwa romantisch durch die Altstadtgassen oder vorbei an fotogenen Highlights, sondern eher durch das Best-of-Veronas weniger glamouröser Rückseite: ein Parkplatz, zwei Verkehrsinseln und sehr viel Randlage.

Aber hey – 5 Euro für 25 Minuten Schatten und Sitzplatz? Kann man machen. Muss man aber nicht. Zurück an der Arena kam wie auf Bestellung der Bus zum Bahnhof. Zehn Minuten später saßen wir schon wieder im Zug nach Desenzano – diesmal ein bisschen müder, aber um unzählige Eindrücke reicher.
Verona – du hast geliefert. Mit Pasta, Pflaster, Panorama – und einem Züglein mit sehr bescheidenem Streckenplan. Zurück an der Arena kam wie bestellt der Bus zum Bahnhof, und zehn Minuten später saßen wir wieder im Zug nach Desenzano.
Zurück in Desenzano ließen wir den Tag dort ausklingen, wo Italien am besten schmeckt: am Hafen. Die Luft war lau, das Licht golden, und die bunten Schmetterlinge, die zwischen den Häusern baumelten, wirkten wie ein verspäteter Gruß aus der Bastelgruppe des Himmels.
Wir fanden einen Platz mit Blick aufs Wasser, bestellten Pizza, Pasta und einen halben Liter Hauswein – und atmeten durch. Nach all den Eindrücken, Treppen, Zügen, Selfies und historischen Schauplätzen war das hier genau das Richtige: ruhig, lecker, unkompliziert.
Boote schaukelten leicht in den Wellen, irgendwo klimperte leise ein Besteckkorb, und wir waren einfach nur… zufrieden. Ein perfekter Abschluss für diesen vollgepackten Ausflugstag.
Mit Stadt, mit Staunen, mit Stolz (über die vielen Schritte) und mit dem festen Vorsatz: Nächstes Mal nehmen wir gleich die Bahn auf den Berg. Also vielleicht.
Dann noch einmal aufs Fahrrad, zurück zum Campingplatz – und dann? Cola. Viel Cola. Sehr viel Cola. Nahezu der gesamte Dosenvorrat wurde geleert – eine konzertierte Rettungsaktion aus dem Kühlschrank heraus, denn der Tag war zwar wunderschön, aber auch: brutal heiß. Die Cola war eiskalt, wir waren durstig – und was soll ich sagen? Es war echte Liebe auf den ersten Schluck. Kein Sommelier der Welt hätte das Erlebnis besser beschreiben können. Spritzig, kalt, perfekt temperiert – mit Noten von „endlich“ und einer Prise „bitte nochmal“.
So saßen wir da, am Camper, mit verschwitzten T-Shirts und Cola-Dosen in der Hand, als wären wir gerade von einer Expedition ins Unbekannte zurückgekehrt.
Fazit: Verona hat uns überrascht – und begeistert.
Verona stand eigentlich schon kurz vor dem Rauswurf aus unserem Reiseplan.
Denn ehrlich gesagt: Beim letzten Mal hat es uns nicht so umgehauen.
Im März – auf dem Weg nach Venedig – hatten wir zwei Stunden Zeit und dachten, das reicht für einen schnellen Eindruck. Hat’s nicht. Damals rannten wir durch die Stadt wie durch ein Museum mit Durchzug – viel gesehen, nichts gespürt. Am Ende blieb das Gefühl: Nett. Aber muss man nicht nochmal haben.
Tja. Und dann kam dieser Moment. Ich dachte mir: Ach komm, wir schauen nochmal. Ohne Stress, mit Zeit, vielleicht lag’s ja einfach an uns. Und was soll ich sagen? Es lag an uns.
Diesmal haben wir uns Verona richtig vorgenommen – mit allem, was dazugehört.
Arena gucken, Liebesbriefwand lesen, über Kopfsteinpflaster stolpern, Gelato essen, Tiramisu löffeln – und dabei ordentlich ins Schwitzen kommen. Und siehe da: Plötzlich fanden wir’s richtig gut. Nicht spektakulär im Sinne von „Postkartenidylle auf Knopfdruck“, aber lebendig, charmant, genau unser Ding.
Verona hat sich von seiner besten Seite gezeigt – und wir kommen bestimmt wieder.