Von Wasserfällen, verpassten Mondlandschaften
einem Steak auf der Motorhaube
Ein neuer Morgen bricht an. Vor uns liegt heute eine lange Etappe auf der Autobahn , aber Müdigkeit? Fehlanzeige. Die Vorfreude auf neue Eindrücke, Kuriositäten am Wegesrand und diese typischen kleinen Roadtrip-Zufälle ist größer.
Das Motel bietet leider kein Frühstück an , aber wir wären nicht wir, wenn wir nicht schon gestern nach einem Tipp gefragt hätten. Die Antwort kam prompt: Slick Rock Grill – angeblich ein Geheimtipp für „Breakfast-to-go“. Also machen wir uns auf den Weg, vorbei an staubigen Straßenrändern und dem langsam erwachenden Hanksville, in Richtung Frühstücksverheißung.

Kaum betreten wir den Slick Rock Grill , schlägt uns dieser wohlige Duft entgegen, den man einfach nicht faken kann: frisch gebratener Speck, dampfende Pancakes, heißer Kaffee . Es riecht nach einem perfekten Start in den Tag. An der Theke ein paar Locals mit Cowboyhüten, an den Wänden alte Blechschilder und verstaubte Schwarzweißfotos. Der Ort wirkt, als sei er direkt aus einem Clint-Eastwood-Film gefallen – nur dass hier niemand vom Pferd steigt, sondern vom Pick-up.
Wir werden freundlich begrüßt, und die Empfehlung kommt wie aus der Pistole geschossen: Pancakes mit Beeren und Ahornsirup, Speck, Rührei und frischer Kaffee. Klingt nach einem amerikanischen Frühstück, wie es im Lehrbuch steht – und genau danach steht uns der Sinn. Wir bestellen eine volle Ladung: knuspriger Speck, fluffige Pancakes, dampfender Kaffee – die ultimative „Startklar für 700 Meilen“-Kombi.

Während wir warten, fällt unser Blick auf einen lebensgroßen Papp-John-Wayne , der hinter der Bar Stellung bezogen hat. Mit seinem Cowboy-Hut, dem wettergegerbten Gesicht und dem ikonischen Grinsen wirkt er so präsent, dass man fast „Howdy“ murmeln möchte. Im Hintergrund dudelt leise Countrymusik , und für einen Moment vergessen wir, dass wir in einem modernen Fahrzeug reisen – alles hier fühlt sich nach Prärie, Pistolen und staubigen Highways an.
Nach kurzer Zeit bringt uns eine lächelnde Kellnerin zwei liebevoll gepackte Frühstückstüten. Es riecht köstlich, und der Gedanke, das jetzt sofort zu essen, ist verführerisch. Doch wir bleiben standhaft – der Plan ist klar: zurück ins Hotel, Tisch her, Kaffee einschenken, Pancakes genießen – warm.
Im Zimmer angekommen , verwandeln wir den kleinen Motel-Tisch kurzerhand in unser persönliches Frühstücksbuffet. Es raschelt, duftet und dampft aus den Tüten – und was da vor uns liegt, kann sich wirklich sehen lassen: fluffige Pancakes , glänzend vor Ahornsirup, knuspriger Toast , goldgelb geröstet, Eier auf den Punkt und Speck, wie aus dem Werbespot – leicht gebräunt, duftend, knusprig.
Der erste Bissen ist wie ein Versprechen. Der Pancake zergeht auf der Zunge, der Toast knackt angenehm zwischen den Zähnen, und die Eier – perfekt. So simpel, so gut. Der Kaffee dazu ist kräftig, heiß und genau das, was wir brauchen, um in Gang zu kommen. Ein Frühstück, das nicht nur satt macht, sondern glücklich. Für einen Moment vergessen wir sogar, dass heute wieder viele Meilen vor uns liegen.

Als die Teller leer sind und der letzte Kaffeeschluck getrunken ist , räumen wir schweigend auf – nicht aus Pflichtgefühl, sondern fast ehrfürchtig, wie nach einem kleinen Ritual. Dann heißt es: Sachen packen, Taschen verstauen, Auto beladen. Es ist diese eingespielte Routine, die sich auf Roadtrips einstellt – alles hat seinen Platz, alles hat seinen Rhythmus.
Ein letzter Blick zurück auf das vertraute Whispering Sands Motel. Das Licht ist mittlerweile kräftiger geworden, die Luft noch angenehm kühl. Dann springt der Motor an, und unser treuer Jeep rollt wieder los.
Die Straße ruft – und wir folgen ihr. Vor uns liegt ein Tag voller Möglichkeiten: weite Highways, wilde Landschaften, skurrile Stopps, neue Eindrücke. Es ist dieser Moment des Aufbruchs, der uns jedes Mal elektrisiert. Ein weiterer Tag auf Achse – und wir sind mittendrin. Ein neuer Tag, ein neues Abenteuer. Es ist kurz nach acht, als wir unser Hotel in Hanksville verlassen – bereit für einen Ort, der schon beim Namen die Fantasie beflügelt: Moon Scape Overlook. Klingt nach Science-Fiction, sieht aber eher nach einem Gemälde aus – irgendwo zwischen Erde, Mars und Traumwelt.
Unser Ziel liegt im südlichen San Rafael Swell , hoch oben auf dem Skyline Rim , einer dramatischen Abbruchkante über dem Blue Valley. Schon beim ersten Mal, als ich davon gelesen hatte, wusste ich: Da müssen wir hin. Kein Wenn, kein Aber. Die Route ist vielversprechend – Highway 24 Richtung Westen , begleitet von warmen Sonnenstrahlen, die die Wüste langsam in goldenes Licht tauchen. Um uns herum wird die Welt lebendig: Rot leuchtende Felsen , stachelige Büsche, die Schatten werfen, und eine Luft, die nach Weite riecht. Es ist, als würde die Natur uns zu diesem geheimnisvollen Aussichtspunkt führen – einladend, ehrfurchtgebietend und voller Versprechen.
Nach etwa achteinhalb Meilen endet der Asphalt, und wir biegen auf eine unbefestigte Piste ab. Vor uns ragt Factory Butte auf – ein massives Monument, das wirkt, als hätte es jemand aus einem Fantasyfilm dort hingesetzt. Faszinierend, fremdartig, imposant. Und irgendwo dahinter, sechs holprige Meilen entfernt, wartet der Moon Scape Overlook. Die ersten Kilometer sind harmlos. Die Straße ist überraschend gut befahrbar, und wir gleiten fast schon mühelos durch eine Szenerie, die aussieht, als hätte man sämtliche Regeln der Topographie einfach mal neu geschrieben. Tiefgraue Erde, bizarr gefurcht, von der Erosion gezeichnet, unwirklich schön.

Doch dann, an der nächsten Abzweigung, wird es ernst. Der Trail wird schmaler, grobe Felsplatten, lose Geröllbrocken und tiefe Auswaschungen machen klar: Jetzt wird’s knifflig. Der Boden ist rau, die Steine sind scharf wie Bisswerkzeuge , und das letzte, was wir jetzt brauchen könnten, ist ein platter Reifen – mit noch 1.700 Kilometern bis Seattle vor der Brust. Wir halten kurz an. Ein Blick nach vorne, ein Blick auf die Reifen, ein Blick in die Gesichter. Die Landschaft ist verlockend, aber der gesunde Menschenverstand sitzt mit im Jeep. Die Spannung steigt – wie viel Abenteuer darf’s heute sein?
Schweren Herzens treffen wir eine Entscheidung: Wir drehen um. Und ganz ehrlich – das ist fast schon ein kleiner Skandal. Normalerweise lassen wir uns doch nicht von ein paar popeligen Steinen aufhalten! Ein bisschen Geröll? Ein paar fiese Rillen? Lächerlich. Wir sind schon über Straßen gefahren, bei denen selbst Google Maps höflich gefragt hat: „Meinen Sie das wirklich?“ Aber heute… heute gewinnt ausnahmsweise die Vernunft.

Nicht, weil wir plötzlich altersweise geworden wären – sondern weil übermorgen der letzte Flieger nach Deutschland geht. Und der verzeiht keine platten Reifen mitten im Nirgendwo von Utah. Wir befinden uns schließlich mitten in der Corona-Pandemie, und einen verpasster Heimflug wollen wir auf keinen Fall riskieren.
Also: Rückzug. Moon Scape Overlook bleibt heute ein Sehnsuchtsort. Aber wir kommen wieder. Mit mehr Zeit. Und vielleicht mit einem Auto, das eher Mars Rover als Mietwagen ist. Zurück auf dem Weg halten wir zumindest noch an der Factory Butte – dieser knorrige Riese von einem Felsen sieht aus, als würde er unsere Umkehr mit hochgezogener Felsbraue kommentieren. “Wirklich? Wegen ein paar Steinchen?” Ja, ja, schon gut. Ein letzter Schnappschuss, ein stilles Versprechen – und weiter geht’s. Auf dem Highway 24 rollen wir nordwärts, begleitet von dramatischer Wüstenlandschaft, als wolle sie sagen: „Ihr habt was verpasst.“ Vielleicht. Aber auch eine Geschichte. Denn genau das ist Reisen: nicht alles schaffen – aber alles fühlen.

Die Sonne begleitet uns seit Stunden – ein treuer Reisebegleiter, der die Landschaft in goldenes Licht taucht und selbst die einsamsten Wüstenkurven in ein Postkartenmotiv verwandelt. Alles läuft glatt, der Highway zieht sich wie ein endloses Band durch die weite Landschaft, und wir gleiten dahin, als wären wir in einem Roadmovie mit Happy-End-Garantie.
Doch dann – Szenenwechsel. Kurz vor Helper betreten wir filmisch gesehen das Genre „Winterdrama“. Als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt, finden wir uns plötzlich in einem Märchen aus Schnee und Frost wieder. Die Berge wirken, als wären sie in Vanillezucker getaucht worden, dicke Flocken tanzen vom Himmel, und die Straße verwandelt sich im Rekordtempo in eine weiße Bühne für unser persönliches Weihnachts-Spezial.

Wir halten am Pleasant Valley Vista Stop , und der Name passt heute besser denn je. Nur ist es weniger „pleasant“ als vielmehr atemberaubend und ein kleines bisschen schräg – vor einer halben Stunde war es noch Frühling, jetzt stehen wir in einer Winterkulisse wie aus einem kitschigen Hallmark-Film. Der Schnee dämpft jedes Geräusch, und für einen Moment ist alles still. Sogar unser Jeep scheint ehrfürchtig zu schweigen.
Doch Utah wäre nicht Utah, wenn es nicht direkt die nächste Überraschung liefern würde. Nach ein paar weiteren Meilen ist der ganze Zauber plötzlich verschwunden. Der Schneefall hört so abrupt auf, wie er begonnen hat, die Sonne kämpft sich durch die letzten Wolkenfetzen, und die Temperatur macht einen Satz zurück in den Frühling. Die Straße dampft leicht, als wollte sie selbst nicht glauben, was da gerade passiert ist. Was bleibt, ist ein staunendes Kopfschütteln, ein paar spektakuläre Fotos – und wieder mal die Erkenntnis: Diese Reise schreibt ihre eigenen Drehbücher. Und wir sind einfach mittendrin.

Die Uhr zeigt 12:30 Uhr, als wir Salt Lake City passieren – schon wieder. Vor etwas mehr als einer Woche haben wir hier einen ganzen Nachmittag verbracht und die Stadt mit ihrer eindrucksvollen Bergkulisse und den blitzsauberen Straßen erkundet. Heute rauschen wir einfach dran vorbei. Kein Tempel, kein City Creek Center, keine Skyline-Fotos. Der Zeitplan ist straff, der Kurs ist klar: Richtung Norden.
Doch dann meldet sich ein anderer Kompass – unser Magen. Erst zaghaft, dann mit Nachdruck. Der Großstadtverkehr liegt hinter uns, und gerade als ich mich frage, wie weit wir es noch mit knurrendem Bauch schaffen, geschieht das, was ich als göttliche Fügung bezeichnen würde: Ein grünes Schild mit weißer Aufschrift erscheint am Straßenrand – Texas Roadhouse.
Ich werfe mich in voller Euphorie ins Geschehen:
„Stefaaaannnn! Fahr raaaauuuus! It’s Steak Time!“
Und Stefan? Der braucht keine Sekunde Bedenkzeit. Der Blinker schnellt nach rechts, die Ausfahrt ist unsere, und in meinem Kopf läuft schon die Speisekarte rückwärts. Beim Einparken rieche ich sie förmlich – diese verheißungsvolle Mischung aus gegrilltem Fleisch, Erdnussschalen und BBQ-Seligkeit.

Es dauert nicht lange, bis wir die Ausfahrt nehmen, rechts abbiegen und schließlich vor dem Texas Roadhouse stehen. Doch was sonst der Auftakt zu einem kulinarischen Kurzurlaub in Butter und BBQ-Soße ist – Auto parken, reinspazieren, Namen auf die Liste, zehn Minuten Warten, ab ans Holzfass – verläuft heute… nun ja, etwas anders.
Schon an der Einfahrt winken uns zwei junge Frauen mit breitem Lächeln heran. Aber statt Menükarten gibt’s die erste Corona-Realität des Tages serviert: „ Nur To-Go heute, sorry – aber ihr könnt gern auf dem Parkplatz essen.“ Ich frage mit gespielt professionellem Optimismus: „Auch auf der Motorhaube?“ – „Of course!“, strahlt sie. Na dann: Outdoor-Dining, Texas-Style.
Wir bekommen sogar einen eigenen Parkplatz zugewiesen – ein privater Tisch mit Blick auf… andere geparkte Autos und einen McDonald’s in der Ferne. Herrlich. Kaum haben wir den Motor abgestellt, kommt auch schon ein junger Kellner ans Fenster geschlendert, als wäre das hier das Drive-In der guten Laune . Bestellung aufnehmen? Kein Problem. Zwei Steaks, einmal Roadtrip-Komfort, bitte. Doch bevor das große Fressen beginnt, gibt’s das Vorprogramm: die legendären Dinner Rolls mit Zimtbutter . Noch warm. Noch fluffig. Noch besser als in Erinnerung. Wir reißen das Tütchen auf wie Kinder an Weihnachten und bestreichen die dampfenden Brötchen mit dieser sündhaft leckeren Zimtcreme, die so schmeckt, als hätte jemand den Advent erfunden und in Butter eingerollt.
Es mag nicht der gemütliche Holzsitzplatz mit Kuhfell-Polsterung sein – aber in diesem Moment ist alles egal. Die Sonne strahlt, der Asphalt heizt die Motorhaube angenehm auf, und wir beschließen kurzerhand, unser improvisiertes Picknick unter freiem Himmel zu feiern. Das Steak wird auf der warmen Haube angerichtet – stilecht auf Pappkarton, aber mit der Würde eines 5-Gänge-Menüs.
Und während wir in unsere Ribeyes beißen, denke ich: Zwei Stunden vorher saßen wir noch im Schneegestöber. Jetzt essen wir wie texanische Könige am Straßenrand. Es ist kein Restaurantbesuch wie früher – aber dafür einer, den wir so schnell garantiert nicht vergessen.
Texas Roadhouse Bountiful
Nach kurzer Wartezeit wird unser Essen serviert – stilecht ans Autofenster gebracht, als wären wir in einem etwas rustikaleren Fünf-Sterne-Drive-In gelandet. Stefan hat sich diesmal für einen Salat mit zarten Steakstreifen entschieden – nicht, weil er plötzlich zur leichten Küche konvertiert wäre, sondern aus rein praktischen Gründen. „Wie soll man ein Steak bitte mit Plastikbesteck schneiden?“ hatte er gefragt. Ich hingegen setze wie immer auf mein bewährtes Glücksgericht: Ribeye. Wenn schon Motorhauben-Gourmet, dann richtig.
Das Ergebnis? Das Ribeye ist auf den Punkt gegart, zart wie Butter und schmeckt – ungelogen – genauso gut wie im Restaurant . Sogar das Plastikmesser schneidet sich überraschend souverän durch das Fleisch, als hätte es eine geheime Ausbildung an der Culinary School of Utah absolviert. Stefans Steakstreifen-Salat hingegen schmeckt ihm so gut, dass er sogar das Dressing lobt. Wer ihn kennt, weiß: das passiert nicht oft.
Satt, zufrieden und mit dem leicht schläfrigen Glück eines perfekten Roadtrip-Mittagessens im Bauch, packen wir unsere leeren Verpackungen zusammen und machen uns wieder auf den Weg. Die Straße zieht sich wie ein Lineal durch die Landschaft, und der Highway schiebt sich durch ein Panorama aus Feldern, Hügeln und vereinzelten Farmhäusern. Stefan fährt. Ich zücke mein Handy. Zeit für einen Zwischenstopp – irgendwas mit Wow-Faktor muss doch noch drin sein.

Und siehe da: “Snake Harley Davidson” in Twin Falls taucht auf dem Radar auf. Allein der Name ist schon ein Volltreffer – wer nennt bitte sein Geschäft „Schlange und Harley“? Das ist entweder ein Marketinggenie oder jemand mit einem ausgesprochen guten Humor. Aber eins ist klar: Ein T-Shirt von diesem Laden fehlt noch in unserer Sammlung. Mission: Roadtrip-Merchandise wird sofort aktiviert. Also: neues Ziel, klare Mission, drei Stunden Fahrzeit. Und plötzlich fühlt sich der Rest des Tages wieder ein bisschen aufregender an.

Die Strecke, die wir gerade befahren, ist – um es freundlich zu sagen – landschaftlich eher zurückhaltend inszeniert . In Wirklichkeit fühlt sie sich an wie ein endloser Ladebildschirm im Roadtrip-Simulator: rechts ein Hügel, links ein Strauch, vorne… nichts. Das optische Highlight dieser Etappe? Ein Schwertransport, der einen gigantischen Windradflügel durch die Prärie kutschiert. Das Ding sieht aus, als wolle es jederzeit abheben – ein fliegender Teppich für die Energiewende. Wir hängen uns für ein paar Minuten dran, tun so, als wären wir Teil einer futuristischen Action-Szene, aber dann biegt der Flügel rechts ab – und mit ihm verschwindet das letzte bisschen Drama aus unserem Blickfeld.

Die Straße wird wieder zur Gleichförmigkeitsmaschine. Kilometer um Kilometer passiert: nichts. Keine Kurve, kein Kaktus, kein Cowboy. Man beginnt zu hinterfragen, ob man überhaupt noch vorankommt oder einfach in einer gut beheizten Parallelwelt steckt, in der die einzige Handlung darin besteht, wach zu bleiben. Aber hey – das ist eben auch Amerika: groß, leer, und irgendwo da hinten kommt dann doch immer wieder etwas, das einen aus dem Sekundenschlaf der Reisesinne reißt.
Und genau das passiert kurz vor Twin Falls. Plötzlich: Brücke. Tiefer Canyon. Und da unten, eingerahmt von dramatischen Felswänden, der Snake River , der sich wie eine filmreife Szene durch das Gestein windet. Wir überqueren die Hansen Bridge, und nur Sekunden später taucht ein unscheinbares Schild auf: Vista Point. Das ist Roadtrip-Code für: Hier lohnt sich Anhalten. Sofort.

Wir parken, stapfen die Treppen zur Plattform hinunter und stehen da – bam , Filmkulisse. Der Snake River Canyon liegt in voller Breite unter uns, 110 Meter tief, als hätte jemand mit einem riesigen Messer eine Schneise durch die Landschaft gezogen. Die Felswände sind dramatisch, der Fluss glitzert, und plötzlich hat sich die zähe Strecke davor in eine wohldosierte dramaturgische Pause verwandelt – der perfekte Kontrast zum Spektakel, das sich jetzt vor uns entfaltet.
Die Hansen Bridge, über die wir eben noch gerollt sind, ist übrigens mehr als nur funktional. Sie ersetzt seit 1966 die ursprüngliche Brücke von 1919 – ein Stück Pioniergeist aus Stahl und Beton. Damals bedeutete sie Fortschritt und Verbindung, heute trägt sie uns über einen Canyon, der aussieht, als wäre er der Trailer für eine Naturdoku mit Morgan Freeman als Erzähler. Man spürt hier noch diesen Pioniergeist, diesen „Wir bauen das jetzt einfach über den Abgrund“-Mut. Kein Wunder, dass man hier nicht nur hinschaut, sondern hinschauen muss.
Wir stehen eine Weile da, atmen durch, lassen die Szenerie wirken. Der Snake River, der sich unten durch die Felslandschaft schlängelt, die stillen Schatten der Canyonwände, das Lichtspiel auf dem Wasser – es ist einer dieser Orte, die nichts von dir wollen, aber alles geben . Kein Eintritt, kein Gedränge, kein Selfie-Zwang. Einfach nur da sein. Solche Zwischenstopps sind der wahre Schatz auf langen Strecken. Sie erscheinen plötzlich, wie ein gut platzierter Filmschnitt , und erinnern dich daran, warum du überhaupt unterwegs bist. Nicht, um irgendwo anzukommen – sondern um diese Momente zu sammeln. Momente, die dich grinsen lassen, selbst wenn davor 200 Meilen nur Staub und Diesel waren.
Und so steigen wir zurück in den Jeep. Ein letzter Blick auf den Canyon, dann schnurrt der Motor wieder los. Vor uns liegt noch einiges an Asphalt – aber in uns liegt jetzt wieder dieser kleine Funke: Abenteuer. Genau deswegen sind wir hier.
Nach unserer erfolgreichen Beutejagd bei Snake Harley Davidson in Twin Falls – inklusive einem nagelneuen T-Shirt für die Sammlung – fühlen wir uns wie zwei Westernhelden nach einem gelungenen Bankraub. „Been there, got the shirt.“ Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Es ist 16:35 Uhr, also exakt 25 Minuten vor Ladenschluss. Besser geht’s nicht.
Auf dem Rückweg Richtung Highway springt uns plötzlich ein Schild ins Auge: „Shoshone Falls – 5 Miles“ . Hm… klingt nach einem lohnenden Umweg. Unsere Beine sind sowieso langsam viereckig vom vielen Sitzen, und wenn uns ein Fluss freiwillig spektakulär über eine Klippe entgegenkommt, dann sagen wir natürlich nicht Nein.
Wir biegen ab und folgen der kurvigen Straße bergab, immer tiefer in ein kleines Tal, das sich überraschend grün und gepflegt präsentiert. Nach ein paar Serpentinen und einem „Bitte bezahlen Sie hier“-Häuschen (5 Dollar Eintritt – ein Schnäppchen für Naturgewalten) erreichen wir einen Parkplatz, der bereits erahnen lässt: Hier wartet kein schnödes Rinnsal auf uns.

Ein paar Schritte später stehen wir auf der Aussichtsplattform , und was sich uns da präsentiert, haut uns förmlich um. Die Shoshone Falls – auch als „Niagara des Westens“ bekannt – donnern mit beeindruckender Wucht über mehrere Kaskaden in die Tiefe. Gischt steigt auf, Nebel tanzt in der Sonne, und das Getöse des Wassers übertönt selbst das Knacken unserer Kameraauslöser. Der Vergleich mit den Niagara Falls ist nicht nur ein PR-Gag – die Shoshone Falls sind tatsächlich höher. Nicht ganz so breit, klar, aber was ihnen an Prominenz fehlt, machen sie mit Drama und Präsenz locker wett.
Wir sind nicht die einzigen Besucher, aber es ist angenehm leer. Die Atmosphäre wirkt fast andächtig – als hätte die Natur beschlossen, heute mal allen zu zeigen, wer hier eigentlich das Sagen hat. Während Stefan still dasteht und einfach nur guckt, werfe ich mich enthusiastisch in den „National-Geographic-Modus“ und versuche, das perfekte Foto zu erwischen, ohne ins Geländer zu kippen. Mission gelungen – glaube ich.
Shoshone Falls
Die Straße führt uns weiter zur Perrine Bridge , einer dieser Brücken, die man nicht einfach überquert, sondern ehrfürchtig bestaunt – und das gleich aus mehreren Gründen. Mit 148 Metern Höhe und 303 Metern Länge zählt sie zu den höchsten Bogenbrücken Nordamerikas – und ist sogar die viertgrößte ihrer Art . Klingt imposant? Ist es auch. Aber der wahre Knaller kommt erst noch: Hier darf man ganz offiziell Basejumping betreiben . Also wirklich – legal, mit Anlauf, Absprung und freiem Fall in den Canyon.

Leider bleibt uns das Spektakel heute verwehrt – keine fliegenden Menschen in Sicht, nur ein paar Krähen, die ein wenig uninspiriert durch die Luft segeln. Trotzdem: Die Vorstellung, wie sich jemand von dieser Brücke in die Tiefe stürzt, lässt den Adrenalinspiegel kurz ansteigen – ganz ohne Sprung.
Die Umgebung? Eine filmreife Schluchtkulisse , in der sich der Snake River in eleganten Bögen durch die Landschaft windet. Der Blick von oben ist so malerisch, dass man für einen Moment vergisst, dass der Tag eigentlich schon lang genug war – und dass noch ein paar Meilen vor uns liegen. Hierher sollten wir irgendwann mal mit mehr Zeit zurückkommen, denke ich – und höre mich gleichzeitig lachen. Klar. Irgendwann. Wahrscheinlich direkt nach dem Segeltörn auf dem Saturnmond Titan.
Also weiter. Die Interstate ruft – wieder einmal. Sie zieht sich endlos durch die Ebenen Idahos, als wolle sie sagen: „Na los, ihr Abenteurer. Noch ein kleines Stück.“ Und tatsächlich: Um Punkt 20:00 Uhr rollen wir nach Boise ein , Hauptstadt des Staates und unser heutiges Etappenziel. Müde, aber zufrieden. Und mit dem beruhigenden Gefühl, dass die Highlights heute nicht nur zahlreich, sondern auch unerwartet spektakulär waren.

Was macht man in einer Hauptstadt, wenn der Tag schon lang war und die Füße eigentlich nach Sofa schreien? Genau – man fährt trotzdem noch schnell zum State Capitol , denn man ist schließlich auf Mission Vollständigkeit . Die Kuppel ruft, und wir folgen.

Boise empfängt uns mit der gelassenen Haltung einer Stadt, die weiß, dass sie niemandem etwas beweisen muss. Keine Hektik, kein Hauptstadtstress – eher das Gegenteil von Washington, D.C., nur eben mit Cowboy-Charme. Und da steht es auch schon, das Idaho State Capitol : ausladend, erhaben, wie aus dem US-Präsidentenfilm-Set direkt importiert. Zwei Blocks breit, mit einer Kuppel, die sich nicht entscheiden kann, ob sie bewundert oder angebetet werden will , und Marmor und Sandstein , die im letzten Licht des Tages fast golden schimmern.

Direkt vor dem Eingang steht eine Nachbildung der Liberty Bell – für alle, die in Philadelphia keine Zeit hatten oder nach der Cheesesteak-Versuchung direkt ins Fresskoma gefallen sind. Diese Glocke hier ist Symbol und Fotomotiv in einem, und Stefan stellt sich artig daneben für den Beweis-Schnappschuss.
Wir genießen die Abenddämmerung, als wäre sie ein sorgfältig platzierter Filmfilter , und schießen unsere letzten Fotos, während sich die warme Farbe des Himmels langsam in einen kühlen Blauton verwandelt. Es ist der perfekte Moment, um durchzuatmen – bevor wir zur letzten Mission des Tages übergehen: dem Check-in.

Das Cottonwood Suites liegt nur wenige Minuten entfernt. Der Name klingt nach ländlicher Idylle, das Gebäude selbst eher nach einem Motel mit gutem PR-Berater. Beim Einchecken der erste kleine Dämpfer: Kein Frühstücksbuffet wegen COVID-19 . Stattdessen gibt’s eine Papiertüte mit Banane, Zimtrolle und Müsliriegel , also die abgespeckte Version amerikanischer Frühstücksliebe. Nicht der kulinarische Start in den Tag, den man sich wünscht – aber hey, immerhin kein leerer Magen.
Dafür dann die überraschende Upgrade-Belohnung : Statt eines kleinen Einzelzimmers bekommen wir ein Zweibettzimmer mit Flussblick . Jackpot! Die Fenster öffnen sich zur stillen Kulisse des Snake Rivers, der träge vor sich hinfließt, als wolle er uns sagen: „Regt euch nicht auf, morgen gibt’s sicher wieder Pancakes.“

Wir lassen uns aufs Bett fallen, zufrieden mit dem Tag – ein Kapitel mit Wasserfällen, Kapitolen, Highway-Fritten und Glocken, die nie klingen , aber trotzdem Eindruck hinterlassen. Und wie immer gilt: Wenn’s anders läuft als geplant, wird’s meistens erst richtig gut.