Der Spider Rock, ein Sombrero
und fanatische Aussichten am Muley Point

„Der Weg ist das Ziel.“

Und dieser Tag beginnt ganz in diesem Sinne: mit  Sonnenschein, leerer Straße und knurrendem Magen . Die Laune? Großartig. Die Lust auf Abenteuer? Noch größer. Doch vor dem Abenteuer ruft erst mal das Frühstück – und zwar laut.

Schon nach den ersten Meilen entdecken wir ein  Denny’s-Schild  an der Interstate, das uns wie ein Leuchtturm der Verlässlichkeit entgegenstrahlt. Aber Corona hat uns vorsichtig gemacht. Gibt’s da noch Frühstück am Tisch oder erwartet uns wieder der triste Takeaway-Trott? Wir behalten vorsichtshalber den Zimmerschlüssel – notfalls wird im Motelzimmer gegessen. Hauptsache nicht auf dem Schoß im Auto, eingeklemmt zwischen Gurt und Pancake-Sirup.

Doch siehe da:  Denny’s hat geöffnet. Richtige Tische. Richtige Bedienung. Richtige Freude.  Die Tische stehen mit Abstand, Gäste sind kaum da – ein halber Sechser im Reise-Lotto. Stefan bestellt sich wie immer den „Grand Slam“ (Eier, Bacon, Hash Browns, Pancakes – das volle Programm), ich lasse mich vom Omelett mit frischem Gemüse und Käse verführen.  Santa Fe Skillet und Double Berry Banana Pancakes  machen den Morgen perfekt. Wir essen langsam, genießen – denn heute hetzt uns niemand.

Zurück am Motel, geben wir brav den Schlüssel ab – und stolpern dabei in die nächste Szenerie aus dem Kuriositätenkabinett der Straße:  ein halbes Dutzend riesiger Dinosaurierstatuen  steht vor dem benachbarten Rock Shop, als wäre hier die letzte Bastion der Kreidezeit. Die bunten Kolosse posieren zwischen  Felsen, Kakteen und Fossilien-Postern , und wir können natürlich nicht anders:  Fotostopp. Sofort.

Stefan steht mit einem Apatosaurus auf Augenhöhe, ich überlege kurz, ob man so einen Dino wohl auf dem Dachgepäckträger montieren kann. Spoiler: kann man nicht. Aber das Foto ist unbezahlbar. Ein Roadtrip beginnt nicht erst am Ziel. Manchmal beginnt er zwischen Pancakes und einem Dinosaurier mit Zahnlücke.  Und genau so lieben wir’s.

Dino Shop Holbrook

Es ist 8 Uhr, wir sind startklar und – Überraschung! – sogar mal richtig in der Zeit. Heute steht einiges auf dem Programm, denn unser Ziel ist es, ganze  700 Kilometer  näher an Seattle heranzukommen. Klingt sportlich, ist es auch. Aber hey – wer behauptet, Roadtrips seien zum Ausruhen da, hat definitiv die falschen Leute gefragt.

Unsere Route soll uns nicht nur Kilometer bringen, sondern auch landschaftliche Höhepunkte.  Der Canyon de Chelly steht auf dem Plan, eines dieser Naturwunder, das man nie vergisst, wenn man es einmal gesehen hat. Vorfreude pur. Doch bevor wir dorthin aufbrechen, gönnen wir uns noch ein paar Stopps entlang der Route 66 – man muss den Klassikern schließlich ihre Bühne lassen. Dann der erste Dämpfer: Die Durchfahrt durch den  Petrified Forest  ist wegen Straßenbauarbeiten gesperrt. Na toll. Kein Fossilienwald, kein versteinertes Holz, kein Foto mit uralten Baumstämmen. Aber wie immer gilt:  Plan B ist unser bester Freund . Stattdessen nehmen wir den  Highway 77  und lassen uns von der unberührten Weite Arizonas einlullen.

Highway 191, Utah

Die Landschaft ist atemberaubend:  Berge, weite Täler, rote Erde und blauer Himmel , der sich scheinbar bis zum Horizont dehnt. Wir halten an mehreren Aussichtspunkten, atmen durch und lassen die Einsamkeit dieser Gegend auf uns wirken. Und dann – endlich – erreichen wir die Abzweigung zum  Highway 191  in Richtung Chinle. Doch kaum sind wir auf dem letzten Stück, bremst uns das nächste Hindernis aus:  eine Baustelle.  Ein Bauarbeiter, offensichtlich wenig in Plauderlaune und mit ernster Miene, beugt sich durch unser offenes Fenster: „Ihr braucht hier nicht weiterfahren. Alles ist geschlossen. Ihr könnt gleich umkehren.“

Bämm. Das saß. Der Canyon de Chelly – unser Herzensziel – soll unzugänglich sein? Schon beim letzten Besuch hat uns dieser Ort tief beeindruckt. Und jetzt stehen wir wieder davor – nur diesmal mit einer Schranke und einem mauligen Bauarbeiter dazwischen. Aber wir wären nicht wir, wenn wir jetzt einfach kehrt machen würden.  Aufgeben? Nicht unser Stil. Zumal ein Wendemanöver an dieser Stelle ohnehin kaum möglich gewesen wäre. Also rollen wir weiter – mit einem leisen „Na, mal sehen…“ im Gepäck.

Und siehe da: Das  Besucherzentrum ist tatsächlich geschlossen , aber unser eigentliches Ziel ist sowieso der  South Rim Drive  – die Aussichtsstraße, die uns entlang des Canyons führt. Keine Ranger, kein Trubel – dafür jede Menge Freiheit, Weitblick und eine Landschaft, die selbst ohne offiziellen Empfang sofort das Herz erobert. Der  Canyon de Chelly , eingebettet in das Gebiet der Navajo Nation, umfasst gleich zwei spektakuläre Schluchten: den namensgebenden Canyon de Chelly und den Canyon del Muerto. Zwei Straßen, der  South Rim Drive  und der  North Rim Drive , schlängeln sich wie aufgemalte Linien entlang der steilen Felswände – jede Kurve ein Versprechen auf neue Ausblicke. Wir entscheiden uns für den South Rim Drive und folgen ihm bis zum  Spider Rock Overlook . Und siehe da – trotz aller Befürchtungen:  Der Trailhead ist geöffnet!

Way to Spider Rock

Wanderschuhe geschnürt, Kamera griffbereit, machen wir uns auf den Weg. Der Tag hatte zwar ein paar Umwege für uns vorgesehen, aber genau  diese spontanen Momente sind es, die den Reiz des Reisens ausmachen . Nach etwa 200 Metern erreichen wir die Abbruchkante – und zack, da ist er wieder, dieser Moment:  Sprachlosigkeit.

Vor uns öffnet sich der Canyon in seiner ganzen dramatischen Pracht.  300 Meter tief , mit schroffen, rotglühenden Wänden, die in der Morgensonne glitzern wie altes Kupfer. Und mittendrin: der legendäre  Spider Rock , diese zwei schlanken, senkrecht aufragenden Felsnadeln, die mit stolzen  240 Metern  aus dem Canyonboden emporstechen. Sie wirken wie  Stein gewordene Wächter  einer längst vergangenen Zeit – majestätisch, würdevoll, fast überirdisch.

Spider Rock

Laut der  Mythologie der Navajo  ist dies der heilige Ort der  Spinnenfrau , die dem Volk das Weben beigebracht haben soll – eine Kunst, die nicht nur Schönheit, sondern auch Überleben bedeutete. Und während wir auf diese gewaltige Formation blicken, scheint es fast, als würde  diese alte Legende plötzlich zum Leben erwachen .

Die Farben um uns herum wirken wie von einem Künstler arrangiert:  Leuchtendes Ocker, tiefes Ziegelrot, zarte Schatten in Lavendel und Braun , durchzogen von den dunklen Linien der Canyonwände und dem frischen Grün der Bäume tief unten im Tal. Ein schmaler Fluss schlängelt sich durch die Ebene wie ein silbernes Band. Und das Beste daran?  Es ist still. Vollkommen still.  Kein Mensch weit und breit. Nur wir, der Wind, der über die Felskante streicht – und dieser magische Ort, der sich für einen Moment nur für uns geöffnet hat.

Auf dem Rückweg vom Spider Rock beschließen wir, das nachzuholen, was wir bei unserem ersten Besuch im Canyon de Chelly sträflich vernachlässigt haben:  die Aussichtspunkte entlang des South Rim Drives . Wir taufen das Ganze spontan  „Viewpoint-Hopping“  – und was soll ich sagen:  Jeder Stopp ist ein Volltreffer. Mal öffnet sich der Blick auf enge, dramatische Schluchten, dann wieder auf weite, sonnenüberflutete Täler, in denen sich die Schatten der Wolken über den Boden ziehen wie wandernde Gemälde. Wir entdecken kleine Wasserbecken, in denen sich der Himmel spiegelt, Pfade durch knorrige Wacholderbüsche und immer wieder neue Perspektiven auf diesen gewaltigen Canyon, der wie ein riesiges, aufgeschlagenes Geschichtsbuch vor uns liegt.

Manche Aussichtspunkte lassen uns nur kurz staunen, andere nehmen uns so sehr gefangen, dass wir minutenlang stehenbleiben und einfach nur schauen. Es ist, als würde  die Natur hier mit jedem Blickwinkel ein neues Kapitel aufschlagen .

Und obwohl wir die Route zuvor schon einmal gefahren sind, fühlt sich heute alles anders an. Vielleicht liegt es an der Stille, vielleicht an der Klarheit des Himmels – oder einfach daran, dass wir uns diesmal Zeit lassen. Keine Eile, kein Termin. Nur wir, die Straße, der Wind – und  dieser Ort, der mehr ist als nur Landschaft. Als wir schließlich sicher sind, wirklich jeden lohnenden Halt mitgenommen zu haben (inklusive einer dramatischen Pose am letzten Overlook), steigen wir wieder in den Jeep.  Der Canyon de Chelly hat uns erneut verzaubert  – und ein weiteres, unvergessliches Kapitel zu unserer Reise hinzugefügt.

Doch der Tag ist noch jung – und da draußen warten noch mehr Straßen, mehr Geschichten, mehr Überraschungen.  Also: Weiter geht’s. Der Weg ruft. Große Entfernungen? Für uns längst Alltag.  In einem Land wie den USA ist das eben Teil des Spiels. Und ehrlich gesagt: Wir lieben es. Denn was auf der Karte nach endloser Strecke aussieht, wird mit der richtigen Playlist im Ohr und der endlosen Weite vor Augen ganz schnell zur perfekten Mischung aus Roadmovie und Zen-Meditation – mit Tempomat. Heute geht’s auf dem Highway 191 Richtung Norden, und nach etwa 16 Meilen biegen wir auf den Highway 69 ab. Die Landschaft wirkt, als hätte sie jemand mit rotem Staub, endlosen Horizonten und ein paar perfekt platzierten Felsen in Szene gesetzt.  Amerika, du hast einfach ein Händchen für Drama.

Amigo Cafe

Nach rund 80 Meilen erreichen wir Kayenta – wie bestellt zur Mittagszeit. Und weil man ja seine Klassiker pflegt, steuern wir zielsicher auf einen alten Bekannten zu: das  Amigo Café . Von außen wirkt es noch immer wie ein unauffälliger Kaktus in der Wüste – aber wir wissen längst:  Innen wartet Geschmack! Aktuell gibt’s wegen der Corona-Bestimmungen nur Takeaway – kennen wir schon, stört uns nicht. Drinnen geben wir unsere Bestellung auf: Stefan entscheidet sich klassisch für einen Cheeseburger, während ich nicht widerstehen kann und wieder den legendären  Navajo Burger  bestelle.

Amigo Cafe

Die Wartezeit überbrücken wir auf bewährte Roadtrip-Art: mit offenen Fenstern, einem guten Song und dem Duft von gebratenem Fleisch, der langsam durchs Autofenster zieht. Schon nach kurzer Zeit klopft ein Mitarbeiter freundlich an unsere Scheibe – und überreicht uns zwei dampfende Tüten Glück.

Der Navajo Burger? Eine Offenbarung.  Zwischen zwei fluffigen, goldbraun gebackenen Frybread-Fladen verbirgt sich ein riesiges Patty, knackiger Salat, Zwiebeln, Tomaten und eine Prise Abenteuer. Das Ganze schmeckt, als hätte jemand Wild West mit Hausmannskost kombiniert – deftig, herzhaft, unverwechselbar. Ich bin pappsatt. Und rundum zufrieden. Kayenta, wir kommen immer wieder. Und wenn es nur für diesen Burger ist.

Navajo Burger

Nach dieser gelungenen Stärkung setzen wir unsere Reise auf dem legendären Highway 163 fort – eine Straße, die sich wie ein filmreifes Band durch die dramatische Wüstenlandschaft zieht. Wenn man hier unterwegs ist, fühlt man sich unweigerlich wie in einem Western – nur eben mit Navi und Klimaanlage.

Wir passieren das Monument Valley, diesen ikonischen Ort voller Mythen, Kinogeschichte und Naturwunder. Eigentlich hätten wir heute im View Hotel übernachten sollen – mit direktem Blick auf die berühmten Felsformationen. Aber wie so oft in diesem seltsamen Reisejahr hat uns  Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht . Die Reservierung wurde storniert. Statt Zimmer mit Aussicht gibt’s nun: Aussicht von der Straße. Und die ist, wie sich herausstellt, ebenfalls nicht zu verachten.

Monument Valley

Es ist bereits unser vierter Besuch, und trotzdem hat dieses Tal eine Sogwirkung, die man kaum beschreiben kann. Die Felsgiganten stehen da wie stumme Wachtposten einer anderen Welt – majestätisch, unerschütterlich, zeitlos. Wir halten an jeder Parkbucht, steigen aus, lassen uns den Wind um die Nase wehen und machen – natürlich – Fotos. Viele Fotos. Noch mehr Fotos. Man kann gar nicht anders. Mit jedem Stopp entfaltet das Monument Valley eine neue Perspektive. Es ist, als würde sich die Landschaft ständig neu arrangieren, nur um uns noch ein letztes “Wow!” zu entlocken.  Es klappt jedes Mal.

Unser (vorerst) letzter Stopp auf dieser Etappe ist ein ganz besonderer:  Mexican Hat . Die Felsformation, die aussieht wie ein gigantischer, perfekt ausbalancierter Sombrero, wirkt wie von Hand aufgesetzt – als hätte jemand beim Fels-Tetris den schwersten Level gemeistert.

Wir steigen aus und bestaunen das Wunderwerk aus der Nähe. Es ist still. Keine Menschen, keine Motorengeräusche – nur der Wind und wir. Der rote Sand, die schroffen Felsen und dieser absurd balancierende Stein wirken fast surreal. Und wie immer: Kamera raus. Stefan versucht, den „perfekten Winkel“ zu finden, während ich versuche, das Ganze einfach mit den Augen aufzusaugen.  Mexican Hat  ist kein Ort, an dem man sich lange aufhält – aber einer, den man nicht mehr vergisst.

Mexican Hat

Und während wir zurück zum Auto gehen, wissen wir: Auch wenn das View Hotel uns heute nicht empfangen hat – die Landschaft hat es mehr als wettgemacht. Diese Strecke ist keine reine Verbindungsetappe. Sie ist ein Erlebnis. Ein Kapitel.  Ein Stück Roadtrip-Magie.

Es ist 16:30 Uhr, und der Tag ist noch lange nicht vorbei.  Klingt nach Feierabend? Nicht bei uns! Denn was jetzt kommt, gehört zu den spektakulärsten Strecken, die man mit einem fahrbaren Untersatz zurücklegen kann – vorausgesetzt, man hat gute Nerven, eine Prise Abenteuerlust und möglichst wenig Höhenangst. Ein paar Meilen hinter dem Abzweig biegen wir auf die State Route 261 ein. Erst verläuft sie harmlos geradeaus durch das karge Weideland, bis sich plötzlich am Horizont eine gigantische Felswand auftürmt. Und dann ist da dieser Moment, in dem man sich fragt: Fahren wir jetzt direkt in die Wand? Doch keine Sorge – die Straße hört nicht einfach auf. Sie hat nur… sagen wir mal: Charakter.

Moki Dug Way

Ein gelbes Schild kündigt es großspurig an:  “Unimproved Road – Sharp Curves – Steep Grades.” Übersetzt heißt das in etwa: Ab hier wird’s ernst. Und genau deshalb sind wir ja hier! Der Moki Dugway.  Eine dieser Straßen, die schon beim Namen Abenteuer verspricht. 5,4 Kilometer Schotter, Staub, Steigung und Serpentinen – geschwungen wie mit dem Korkenzieher in den Fels gebohrt. Die Straße wurde einst für LKW gebaut, die Uranerz vom Colorado-Plateau nach Mexican Hat transportierten. Heute ist sie ein Paradies für Offroad-Fans, Schwindelfreie und alle, die Serpentinen-Bingo spielen wollen.

Moki Dug Way

Die Fahrt ist nichts für schwache Nerven – aber genau deshalb lieben wir sie.  Die Reifen knirschen über lose Steine, der Abgrund rechts neben uns ist… nennen wir es mal  respektgebietend . Leitplanken gibt’s hier keine – dafür spektakuläre Ausblicke aufs Valley of the Gods. Links geht’s senkrecht nach oben, rechts senkrecht nach unten, und unser Jeep kämpft sich tapfer Meter für Meter nach oben. Anhalten? Unbedingt – und zwar regelmäßig. Denn diese Szenerie muss man sich einfach in Ruhe anschauen (und natürlich fotografieren).

Moki Dug Way

Oben angekommen, sind wir jedes Mal wieder aufs Neue sprachlos.  Trotz dreier Moki-Dugway-Durchquerungen hat diese Strecke nichts von ihrer Magie verloren. Die Aussicht, das Panorama, die Luft – es fühlt sich an, als hätte man gerade eine Etappe im Abenteuer-Spielbuch „USA Hardcore Edition“ abgeschlossen.

Und ehrlich? Genau dafür sind wir unterwegs. Für Straßen, die keine sind. Für Schilder, die einem drohen, statt zu warnen. Für diesen einen Moment oben auf der Kante der Welt, an dem man sich fragt:  Wer braucht schon Asphalt, wenn man Aussicht haben kann?

Oben angekommen, trauen wir unseren Augen kaum: Die Stichstraße zum  Muley Point  ist tatsächlich geöffnet! Beim letzten Mal war sie gesperrt – und auch davor hatten wir nie das Glück, hier hochzufahren. Doch heute scheint alles zu passen:  die Zufahrt ist frei, das Wetter ist makellos , und über uns spannt sich ein tiefblauer Himmel, der förmlich nach Fernweh riecht. Ohne lange zu zögern, biegen wir ab. Die acht Kilometer lange Schotterpiste zieht sich wie ein Lineal über die Cedar Mesa – eine dieser Straßen, die einem das Gefühl geben, mitten durch ein altes Western-Set zu fahren. Links und rechts nichts als roter Sand, knorrige Büsche und diese majestätische Weite, die nur die Wüste kennt. Unser Jeep staubt ordentlich, aber das gehört dazu –  Staub ist hier so etwas wie der Eintrittspreis für große Momente .

Je näher wir dem Ziel kommen, desto gespannter werden wir. Und dann – ganz plötzlich –  öffnet sich der Blick auf das Unfassbare .

Der Muley Point. Worte reichen eigentlich nicht aus. Vor uns liegt eine  gigantische Schluchtenlandschaft , geformt vom San Juan River, der sich wie eine aufgewühlte Schlange in engen Windungen durch das Gestein frisst. Es ist, als würde die Erde ihr Innerstes zeigen – Fels, Falten, Farbe und Form. Und das Ganze eingerahmt von einem Horizont, der sich bis zum Monument Valley erstreckt, das in der Ferne wie ein Gemälde schimmert.

Doch damit nicht genug –  wir fahren noch ein kleines Stück weiter , über einen leicht holprigen Pfad, der noch einen zweiten Aussichtspunkt verspricht. Und der ist – ohne Übertreibung – die Krönung des Tages. Hier sieht man nicht nur die Goosenecks und das Monument Valley, sondern auch die Henry Mountains, die Abajo Mountains, die Ute Mountains und die Navajo Mountains.  Ein 360-Grad-Blick wie aus einem anderen Universum . Die Luft ist klar, der Wind spielt mit der Kapuze, und für einen Moment ist da nur: Stille. Wir stehen einfach da. Reden wenig.  Die Aussicht spricht für sich.

Natürlich machen wir ein paar Fotos – okay, viele – aber wir wissen, dass  kein Bild je die Magie dieses Ortes einfangen wird . Es ist ein Ort, den man fühlen muss. Ein Ort, der einem zeigt, wie klein man ist – und gleichzeitig, wie groß das Leben sein kann. Es fällt uns schwer, uns von diesem unglaublichen Panorama zu lösen. Der Wind streicht leise über die Hochebene, es ist still – fast ehrfürchtig still. Und obwohl unsere Kameras glühen und der Auslöser fast schon automatisch klickt,  wissen wir längst: Diese Magie kann kein Foto der Welt einfangen .

Muley Point

Doch irgendwann heißt es losreißen. Noch  125 Meilen, knapp 200 Kilometer , trennen uns von unserem Etappenziel. Ein letzter Blick zurück, ein stilles „Wow“ – und weiter geht’s. Aber die Bilder im Kopf begleiten uns, Kilometer für Kilometer.

Nach etwa 30 Meilen stoßen wir auf den Highway 95, der uns schnurgerade weiter nach Norden führt. Und dann taucht es auf:  das Schild zum Natural Bridges National Monument . Ach, wie gerne würden wir hier einen Abstecher machen. Nur ein kurzer Blick auf den Bridge View Drive, auf diese eleganten Natursteinbögen, die wie Kunstwerke in die Landschaft gemeißelt wurden. Doch wir müssen weiter –  die Zeit ist heute nicht auf unserer Seite . Stattdessen beschließen wir, diesen Ort auf unsere Liste für „das nächste Mal“ zu setzen. Und diesmal richtig. Ohne Eile, mit mehr Spielraum und vielleicht sogar einer Übernachtung unter den Sternen des Monument Valley.  Denn es gibt Orte, die will man nicht nur sehen – die will man fühlen.

Etwa 50 Meilen später erreichen wir die  Hite Crossing Bridge , die sich wie ein eleganter Bogen über den Colorado River spannt. Sie wirkt fast zierlich in dieser gewaltigen Landschaft aus Fels und Canyon, wie ein feines Band, das zwei Welten miteinander verbindet. Kurz hinter der Brücke nehmen wir die unscheinbare Abzweigung zum  Hite Overlook  – ein Ort, der auf keiner Top-10-Liste steht, aber genau deshalb ein echter Geheimtipp ist.

Hite Crossing Bridge

Und dann stehen wir da. Vor uns liegt der Colorado River, eingebettet in eine Landschaft aus Sandsteinplateaus und tief eingeschnittenen Canyons. Der Blick reicht bis zum  Lake Powell , dessen Restwasser im goldenen Licht der Nachmittagssonne glitzert. Die Hite Marina? Ein Schatten ihrer selbst – fast verlassen, als hätte jemand die Zeit hier einfach angehalten.

Doch genau das macht diesen Ort so besonders.  Kein Spektakel, kein Trubel – nur Weite, Ruhe und der Blick in eine andere Welt.  Wir steigen aus, atmen tief durch und lassen den Moment wirken. Alles ist still. Keine Stimmen, kein Verkehr – nur der Wind, der in den Ohren rauscht, und das sanfte Murmeln des Flusses tief unten im Canyon. Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen.  Und genau dafür reisen wir.

Nach einer kurzen Pause steigen wir wieder in unseren Jeep. Noch liegen etliche Meilen vor uns. Aber irgendetwas hat sich verändert –  wir sind nicht müde, wir sind erfüllt . Vom Wind, vom Licht, vom Staub der Straße – und von der Schönheit eines Ortes, der nicht laut ist, aber lange nachklingt.

Knapp eine Stunde später rollen wir in Hanksville ein  – einem dieser Orte, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie wirklich existieren oder nur auf Landkarten eingezeichnet wurden, um Lücken zu füllen. Die Hauptstraße ist schnell abgefahren, Restaurants? Fehlanzeige. Hotels? Ein sehr überschaubares Angebot. Die Zivilisation scheint sich hier auf ein Minimum reduziert zu haben.

Doch dann leuchtet es uns entgegen – das rote „VACANCY“-Schild des Whispering Sands Motel.  Ein Hoffnungsschimmer in der Einsamkeit von Utah. Wir kennen das Motel noch von früher, und der Anblick wirkt wie eine kleine Umarmung in Neonröhrenform.  Erleichterung macht sich breit.

Whispering Sands Motel

Ich betrete die Lobby – ein schlichter, aber gepflegter Empfangsbereich, in dem eine freundliche Dame mit angenehm müdem Lächeln auf mich wartet. Der Preis für die Nacht:  95 Dollar.  Nicht gerade ein Schnäppchen für einen Ort, an dem man abends den eigenen Schatten nach Gesellschaft fragen muss. Aber die Alternative, im Dunkeln weiterzufahren, ist keine Option. Also:  Zimmer her, Schlüssel her, gute Nacht in Sicht.

Wir bekommen ein Zimmer im zweistöckigen Hauptgebäude – nichts Besonderes, aber sauber, ruhig und mit diesem leicht angestaubten Motel-Charme, der irgendwie beruhigend wirkt.  Genau das, was man nach 700 Kilometern, Wind, Wüste und Wow-Momenten braucht.

Whispering Sands Motel

Abendessen? Keine Chance.  Die Burger vom Amigo Café in Kayenta liegen uns immer noch wie Ziegelsteine im Magen. Die Vorstellung, jetzt noch was zu essen, fühlt sich an wie ein schlechter Witz. Also lassen wir’s gut sein. Stattdessen: Beine hoch, Schuhe weg, einmal tief durchatmen.  Kalorienstand: „All-you-can-eat für zwei Tage“.

Was für ein Tag.  Canyon de Chelly – ein Naturwunder zum Innehalten. Monument Valley – immer wieder Gänsehaut. Moki Dugway – Adrenalin mit Aussicht. Muley Point – stille Größe, die sprachlos macht. Und zwischendrin: Weite, Wind und jede Menge Staub.  Ein Tag, der in jede Roadtrip-Hall of Fame gehört. 716 Kilometer haben wir heute geschafft.  Die restlichen knapp 1.700 wirken plötzlich gar nicht mehr so abschreckend.  Noch drei Tage liegen vor uns –  und dieses Mal müssen wir nicht mehr hetzen.  Kein enge Zeitplan, kein Sightseeing-Stress. Nur wir, die Straße und das, was da draußen noch auf uns wartet.

Jetzt aber:  Licht aus. Gute Nacht, Hanksville.  Und bitte – keine Aliens, Kojoten oder klopfende Rohre heute Nacht. Morgen geht’s weiter. Und wer weiß – vielleicht wird dieser Tag ja noch legendärer als der letzte.

Whispering Sands Motel

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