Ich schmeiß alles hin und werde Lokführerin!

Februar 2020 – fast ein Jahr ist vergangen, seitdem wir das bunte Treiben von Las Vegas erlebt haben, als plötzlich die Hotels evakuiert wurden und die funkelnden Lichter erloschen. Fast ein Jahr lang bin ich nun, mit nur wenigen Pausen, im heimischen Umfeld in Kurzarbeit, denn meine Tätigkeit im Außendienst des Elektronik-Einzelhandels gilt leider nicht als systemrelevant – alles wegen dieser verdammten Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns.

Aber hey, das hat auch seine Vorteile: Ich habe jede Menge Zeit, um meine Webseite aufzumotzen und ausgiebig mit meinen beiden Enkelkindern zu spielen.

Die Lockdown-Periode verbringe ich größtenteils vor meinem Computer. Ich feile an meiner Webseite herum und streife durch die sozialen Medien. Dabei stoße ich immer wieder auf Beiträge aus Baden-Württemberg, in denen verschiedene Bahnunternehmen nach neuen Mitarbeitern suchen. Irgendwann fesselt mich eine Anzeige besonders: Zugbegleiter, Lokführer und viele weitere spannende Jobs werden angeboten. Es gibt sogar Erfahrungsberichte von Menschen, die bereits dort arbeiten und offensichtlich glücklich sind. Interessanterweise werben sie auch explizit um Quereinsteiger und Menschen über 50 – das weckt mein Interesse.

Diese Stellenanzeigen begegnen mir immer wieder. Zugbegleiterin werden – klingt eigentlich ziemlich cool. Oder vielleicht sogar Lokführerin? Ach, Unsinn. Ich habe doch einen großartigen Job, der mir wirklich Spaß gemacht hat – zumindest damals, vor Monaten, als ich das letzte Mal gearbeitet habe. Dazu kommt noch mein Firmenwagen, auch wenn es nur – im Vergleich zu einer Lokomotive – ein bescheidener Golf ist. Aber so ein Firmenwagen er ist praktisch und unkompliziert. Nein, diesen Job gebe ich nicht so schnell auf.

Oder soll ich wirklich? Ach, was soll’s, warum nicht einfach mal eine Bewerbung raushauen? Nur aus Spaß natürlich. Ob die wirklich Leute ohne Vorkenntnisse und über 50 (ich bin sogar schon 54) nehmen? Na ja, einen Versuch ist es wert. Und wenn schon, dann gleich als Lokführerin. Da kriegt man doch glatt Lust, so ein tonnenschweres Gefährt zu bewegen. Na gut, ich habe ja Zeit, und Bewerbungen schreiben konnte ich früher richtig gut. Okay, die letzte ist schon sieben Jahre her – so lange bin ich bereits im jetzigen Unternehmen. Aber das sollte machbar sein.

Und dann das nächste Problem: Woher bekomme ich ein Bewerbungsfoto? Mein aktuellstes ist genau sieben Jahre alt. Ich hab mich nicht wahnsinnig verändert – bis auf das Alter und die Frisur. Aber wir haben Lockdown, und Fotografen sind leider nicht systemrelevant. Aber das mit dem Foto würde ohnehin erst auffallen, wenn man mich zu einem persönlichen Gespräch einlädt. Dann kann ich mir immer noch was überlegen.

Also mache ich mich ans Bewerbungsschreiben. Die Datei der letzten Bewerbung ist in den Tiefen der Festplatte schnell gefunden. Ich muss ja im Lebenslauf nur meinen aktuellen Job ergänzen, das Anschreiben fertig machen und los…

Das Anschreiben fertig machen: Kein Problem!

Oder doch? Wie um alles in der Welt soll ich das hinbekommen? „Sehr gerne würde ich Lokführerin werden, weil ich in meinem aktuellen Job die Ware so gut präsentieren kann.“ Geht irgendwie nicht. Dann eben: „…weil ich damals, als ich eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin gemacht habe, schon immer den Plan hatte, Lokführerin zu werden.“ Nein, das geht auch nicht. Mist, das habe ich mir einfacher vorgestellt.

Auch ein Blick in meinen Lebenslauf macht es nicht besser. Sämtliche Tätigkeiten, die ich bisher gemacht habe, lassen sich nicht auf den Job als Lokführerin beziehen. Na dann lass ich es eben sein. Ich hab ja einen Job.

Aber es lässt mir keine Ruhe, und ich bitte Google um Hilfe. Neben Bewerbungsvorlagen, die nicht passen, finde ich Unternehmen, die für nicht gerade wenig Geld das Schreiben einer Bewerbung mit Lebenslauf übernehmen. Nein, eigentlich wollte ich es ja eh nur mal probieren – dafür gebe ich doch keine 100€ aus.

100€ und ein paar Tage später habe ich eine perfekte Bewerbung in meinem Email-Postfach. Wow, das hätte ich so nicht hinbekommen. Ich bin begeistert! Die 100€ haben sich wirklich gelohnt, die Bewerbung ist toll. Ich schicke sie ab. Mal sehen, was passiert.

Es folgte eine ziemlich gewöhnlichen E-Mail, die nur meinen Bewerbungseingang bestätigte. Aber dann, Leute, nur wenige Tage später – BÄM! – kam die nächste Mail: „…Gerne laden wir Sie zu einem persönlichen Vorstellungstermin ein.“

Puh, da war aber plötzlich Action angesagt! Ich hatte gerade mal eine Woche, um mein Bewerbungsfoto auf Vordermann zu bringen. Glücklicherweise hatten die Friseure seit Kurzem wieder geöffnet. Schnell einen Termin gemacht, das alte Foto mitgenommen und klipp und klar gesagt: „Bitte diese Frisur und sieben Jahre jünger 💇🏼.“ Mein Vertrauensfriseur hat echt ganze Arbeit geleistet – Haare etwas dunkler, etwas kürzer, und den Rest hab ich dann selbst mit Make-up geregelt. Hoffentlich hat’s geklappt…

Dann kam endlich der große Tag des Gesprächs. Zumindest haben sie mich erkannt 😅! – die Frisur und das Make-up haben wohl geholfen. Nach einer herzlichen Begrüßung ging es dann in in kleines Büro. Da hatten sie schon einen Eignungstest für mich vorbereitet. Eine Stunde Zeit, und dann noch ein Gespräch.

Mit einem Einstellungstest habe ich gerechnet, dass habe ich bereits im Internet recherchiert. Es gab auf verschiedenen Seiten ein paar Übungsaufgaben – perfekt um sich ein wenig vorzubereiten. Da waren ein paar echt fiese Übungsaufgaben dabei. Besonders die Textaufgaben haben mich ins Schwitzen gebracht. Ihr wisst schon, sowas wie „Wie viele Hühner hat Max, wenn er morgens 12 Eier findet und davon 3 fallen lässt?“ – das war echt lange her und ich habe diese verfluchten Textaufgaben schon on der Schule gehasst. Aber ich hab geübt, geübt, geübt …

Ausser Textaufgaben tauschten in diesen Übungen auch immer wieder Zahlenreihen zu finden. Ihr kennt das: 2 – 4 – 8 – 10 – ? Was kommt an die Stelle des „?“ Und mein räumliches Vorstellungsvermögen war auch gefragt. Da hat mir echt meine Ausbildung zur technischen Zeichnerin geholfen.

Also ich war echt gut vorbereitet und total positiv gestimmt. Die ersten beiden Seiten waren Allgemeinwissen. Oh Mann, das hatte ich echt nicht erwartet. Aber die Fragen waren okay, gut machbar. Es ging um Deutschland, Geografie und Geschichte.

Dann kamen die Zahlenreihen, geometrische Aufgaben und – aber hey! – Wo waren die Textaufgaben? Leute, da war keine einzige! Stattdessen eine ganze Seite mit Rechenaufgaben. Als wären Grundrechenarten ohne Taschenrechner mit 5-stelligen Zahlen nicht schon schlimm genug, gab’s auch noch Bruchrechnen. Ich war echt entsetzt. Wie ging das nochmal mit den Brüchen? Tief im Gehirn gegraben – irgendwann vor 35 Jahren musste ich das doch mal gelernt haben. Nur wo?!

Die Stunde war um. Ich hatte überall ein Ergebnis hingeschrieben, außer bei einer Rechenaufgabe. Ich hatte echt kein gutes Gefühl. Die nette junge Frau, die mich empfangen hatte, kam rein und holte den Test bei mir ab. „Ich werte den schnell aus – dann komme ich wieder.“ In der Zwischenzeit hab ich mir Gedanken gemacht, was wohl mit Bewerbern passiert, die den Test nicht schaffen. Werden sie höflich verabschiedet mit einem „Sorry – wir haben keine Lok für dich“? Oder rausgeschmissen durch irgendeine Hintertür? Oder heißt es einfach „Netter Versuch – aber du bist zu doof“…?? Ich würd’s gleich erfahren.

Die junge Frau kommt zurück und führt mich in ein anderes Büro. „Super Test – Sie haben mehr als 80% richtig, das ist sehr gut.“ Ich freue mich riesig und möchte noch wissen, ob es speziell mit dem Bruchrechnen geklappt hat: „Ja, diese Aufgaben waren alle richtig.“ Wow – ich bin ein Genie!

Das Gespräch war nett und locker. Außer der jungen Frau war noch ein Lokführer anwesend, um spezifische Fragen zu beantworten. Weitere Voraussetzungen für den Job sind eine medizinische Untersuchung mit Sehtest, Drogentest, usw., und eine psychologische Untersuchung. Die beiden Termine würden sie mir per E-Mail zusenden.

Okay – es läuft. Was als „ich schau mir das nur mal an“ begann, nahm richtig Fahrt auf. Die medizinische Untersuchung war schon am nächsten Tag um 8 Uhr. Nüchtern – also ohne Frühstück, dafür mit schlechter Laune. Ich hasse es, wenn ich nach dem Aufstehen nichts zu Essen bekomme. 😡

Pünktlich um 8 Uhr war ich in der in der Mail angegebenen Arztpraxis. Sehtest, Hörtest, Drogentest, Blutabnehmen, Gesichtsfeldmessung, EKG, und, und, und. Nach einer Stunde war ich getestet und für gut befunden. Endlich frühstücken! 🥐

Erinnerst du dich an den Anfang dieser Geschichte – ich war nur eben mal neugierig, was das für Jobangebote für über 50-jährige Quereinsteiger sind! Jetzt fehlt nur noch die psychologische Untersuchung. Google sagt, dass man sich darauf nicht vorbereiten kann. Schade.

Die Untersuchung findet im Unternehmen selbst statt. Pünktlich treffe ich dort ein und werde nach kurzer Wartezeit in einen recht großen Besprechungsraum geführt. Der Herr, der den Test durchführt, ist sehr freundlich und sympathisch. Er erklärt kurz den Test, danach setze ich mich vor einen Laptop, an dem Kopfhörer, Pedale und eine spezielle Tastatur angeschlossen sind.  Ich werde allein gelassen und starte das Programm. Eine gute Stunde lang geht es darum, Tasten und Pedale zu drücken, entweder wenn ein Ton kommt, eine spezielle Farbe oder Formen oder irgendwie alles zusammen. Ich gebe alles!

Nach einer starken Stunde sagt mir der Computer, dass es nun Zeit für eine 5-minütige Pause ist. Danach geht der Test weiter. Ein graues Quadrat blinkt langsam auf dem Bildschirm. Wenn sich dessen Farbe ändert, muss ich eine Taste drücken. Einmal schweife ich kurz mit den Gedanken ab und hätte so fast den Tastendruck verpasst. Ohje – schnell wieder zur Konzentration finden!  Nach einer halben Stunde ist der Test geschafft, ohne dass mich das blinkende Quadrat noch völlig aus der Fassung gebracht hat. Alles in allem war der Test ziemlich anstrengend, und ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis.

Der nette Herr kommt wieder rein und meint: „Dann schauen wir uns das Ergebnis mal an.“ Er schaut in den Computer und hebt die Augenbrauen – ich kann seinen Blick nicht einschätzen. War ich gut? Ist hier Endstation? „Wie alt sind Sie?“ fragt er mich. „54“, ist meine Antwort. Ohje…

„Wow, was für ein Ergebnis!“, sagt er mit einem breiten Grinsen. „Die Personalabteilung wird begeistert sein. Darf ich denen die Einzelheiten verraten? Normalerweise darf ich aus Datenschutzgründen nur ein einfaches ‚bestanden‘ oder ’nicht bestanden‘ sagen.“

„Natürlich, klar!“, antworte ich begeistert über das gut Testergebnis.

Die Dame aus der Personalabteilung strahlt, als sie das Ergebnis sieht. „Fantastisch! Dann geht’s am 3. Mai los. Herzlichen Glückwunsch! Wir freuen uns wirklich darauf, dich im Team zu haben. Hast Du noch Fragen?“

„Im Moment nicht“, antworte ich, obwohl ich eigentlich vor lauter Aufregung tausend Fragen hätte. „Alles klar, dann bis bald. Den Arbeitsvertrag schicke ich morgen raus.“

Völlig überwältigt steige ich aus dem Aufzug und lasse mich auf die nächstbeste Parkbank fallen. Morgen sollte also der Arbeitsvertrag eintreffen. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, die Zusage zu erhalten, und hatte mir daher keine Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen würde. Das Datum überraschte mich ebenso. Grundsätzlich hatte ich ja nie vor, meinen tollen Job aufzugeben. Und jetzt? Heute war der 29. März, und ich hatte nur einen Tag Zeit, um mich zu entscheiden. Denn schon morgen müsste ich meinen aktuellen Job fristgerecht kündigen. Oh Mann,… Zuerst einmal tief durchatmen. Immer noch völlig geflasht rief ich meinen Mann an, während ich noch auf der Parkbank saß, und erzählte ihm die ganze Sache. „Was soll ich jetzt tun?“ fragte ich ihn. „Na, Lokführerin werden,“ meinte er trocken. „Schließlich hast du 100€ für eine Bewerbung ausgegeben – und der Friseur war auch nicht billig.“ Ja, so ist er mein Stefan: Pragmatisch und direkt.


Was Mitte Februar als impulsiver Klick begann, hatte sich nun, gerade einmal 6 Wochen später, zu einer verheißungsvollen Zusage für eine neue berufliche Perspektive entwickelt. Ab dem kommenden Mai würde ich mich in eine etwa 10-monatige Qualifizierung stürzen, um Lokführerin- oder wie es korrekt heißt: Triebfahrzeugführer zu werden. Wenn mir jemand vor nur zwei Monaten diese Zukunftsvision präsentiert hätte, den hätte ich für völlig verrückt gehalten.

Und so kündigte ich einen Tag später meinen Job und startete mit 54 noch einmal richtig durch. Meine Freunde und meine Familie fielen jedenfalls aus allen Wolken, als ich ihnen erzählte: „Hey, wisst ihr schon das Neuste? Ich habe meinen Job gekündigt und werde jetzt Lokführerin. Cool, oder?

Stellt euch mal ihre Gesichter vor 😜“

Wie es weitergeht, erfährst du hier in meinem Blog. Ich würde mich freuen, wenn du mich auf meinem Weg zur Triebfahrzeugführerin begleitest. Es wird auf jeden Fall spannend!

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