Von Schilderwäldern bis zu Jadestädten
eine Reise auf dem Steward-Cassier Highway
Heute Morgen habe ich es endlich geschafft, ein paar Fotos vom Campground zu machen. Gestern war’s schlicht zu dunkel – und, naja, vielleicht wollte ich euch die Überraschung auch einfach noch nicht verderben. Aber hey, besser spät als nie, oder?
Bevor wir uns also wieder auf die Straße werfen, dachten wir: „Eine schnelle Dusche wäre jetzt perfekt.“ Hah. Perfekt ist relativ. Wer schon mal in einem Waschraum stand, in dem die 50er Jahre auferstehen, weiß, was ich meine. Kennt ihr den Film Christine von Stephen King? Für alle, die jetzt ratlos schauen: Es geht um einen 58er Plymouth Fury, der Menschen tötet. Aber nicht einfach so. Nein, kurz vorher spielt im Autoradio Musik aus den 50ern – so blechern, dass sich dir die Nackenhaare aufstellen. Und genau DAS passiert, als ich den Duschraum betrete.
Plötzlich dudelt da 50er-Jahre-Musik aus irgendeiner unsichtbaren Jukebox. Ich schaue mich um: Plastikblumen (natürlich), eine fragwürdige Deko, die wohl den Charme der „guten alten Zeit“ versprühen soll – oder eben den Charme eines Horrorfilms. Und dann entdecke ich den Übeltäter: Unter dem Waschbecken steht ein Heizlüfter, der nicht nur warme Luft produziert, sondern offenbar auch den Soundtrack zu meiner eigenen Stephen-King-Verfilmung liefert.
Duschen mit Background Music. Klingt erstmal nach Luxus, fühlt sich aber mehr nach „gleich knallt die Tür zu und ich bin geliefert“ an. Ich habe die Dusche jedenfalls überlebt (Spoiler), kam zurück zum Camper und erzählte Stefan von meinem kleinen Gruselfilm. Und ratet mal: Im Herrenwaschraum stand exakt so ein Teil! Mit Musik!
Natürlich konnte ich es nicht lassen und ging später nochmal in die Frauendusche, nur so zum Händewaschen. Diesmal: absolute Stille. Keine Musik, kein Lüfter, nur ich und die Plastikblumen. Ich komme raus, schaue Stefan direkt an und sage mit ernster Miene – fast schon wie in einer Szene aus Psycho:
„Die Musik ist aus. Es hat wohl getötet.“
Für einen Moment war’s mucksmäuschenstill zwischen uns. Stefan blinzelte irritiert, dann mussten wir beide lachen – dieses leicht nervöse Lachen, das man hat, wenn man genau weiß: Eigentlich war das gerade ein bisschen zu nah an einer echten Horrorfilmszene.
Falls ihr jetzt denkt, ich schaue zu viel Fernsehen – ja, erwischt. Aber glaubt mir, dieser Waschraum war eine Oscar-reife Horror-Kulisse.
Watson Lake / Downtown RV Park
Ach ja, der Campground hat nicht nur diese charmanten Duschräume, sondern auch eine Münz-Car-Wash. Stefan, frisch inspiriert, beschließt, unseren Dempster-braunen Camper dort wiederzubeleben. Ich hingegen gönne mir lieber einen Spaziergang am Wye Lake, der direkt nebenan liegt. Ganz ohne Soundtrack. Zum Glück.

Jetzt aber los zum Sign Post Forest – diesem skurrilen Mekka für alle, die Straßenschilder nicht nur als schnöde Wegweiser, sondern als Souvenir mit Nostalgiefaktor betrachten. Die Geschichte dieses Schilderwaldes begann 1942 – und wie so oft fängt alles mit einem Unfall an. Ein banaler Pfahl mit Distanzangaben wurde bei Bauarbeiten beschädigt. Der arme Private Carl K. Lindley bekam den Auftrag, das Ding zu reparieren. Aber anstatt brav zu flicken, machte er das Ganze zu seiner persönlichen Bühne: Er nagelte ein Schild an, das in Richtung seiner Heimatstadt Danville, Illinois, zeigte – samt Kilometerangabe. Und zack: Aus einem schlichten Wegweiser wurde ein Selbstläufer, wie man ihn Hollywood nicht besser hätte erfinden können.

Heute, fast acht Jahrzehnte später, wuchert hier eine Sammlung von rund 72.000 Schildern – und jedes erzählt seine ganz eigene Geschichte. Die Stadt ist längst dazu übergegangen, ständig neue Pfosten in den Boden zu rammen, drei bis vier Meter hoch, weil der Platz sonst nicht reicht. Ein bisschen wie ein endlos wachsendes Comic-Panel: kunterbunt, chaotisch und völlig faszinierend.
Wir schlendern durch dieses Freiluft-Museum und kommen aus dem Staunen nicht heraus – die Vielfalt reicht von offiziellen Ortsschildern über kreativ geklaute Verkehrszeichen bis hin zu selbstgebastelten Blechtafeln, die vermutlich mit viel Bier und einem Akkuschrauber entstanden sind. Hier könnte man locker eine Stunde verbringen, wahrscheinlich sogar länger, wenn man wirklich jedes Detail einsaugt.
Einziger Haken: Wir sind komplett unvorbereitet. Kein Schild aus Esslingen, keine selbstgebastelte Hommage an unsere Reisen – nichts. Nur wir, die Kamera und ein bisschen Neid auf all jene, die cleverer waren. Aber wir haben uns fest vorgenommen: In zwei Jahren sind wir wieder da. Und falls in Esslingen bis dahin zufällig ein Ortschild verschwunden sein sollte – nein, wir waren es nicht!
Sign Forest Watson Lake
Wir wollen endlich wieder auf die Straße. Zuvor noch schnell tanken – Stefan kümmert sich um den Truck, und ich nutze die Gelegenheit, in der Tanke fix die Toilette aufzusuchen.
Am Tresen frage ich höflich nach: „Restrooms?“ Der Mitarbeiter nickt knapp, zeigt nach hinten und sagt trocken: „Restrooms in the back – you have to go through the Adult Video Store.“
Äh… bitte was?!

Und tatsächlich: Mein Weg führt nicht etwa durch einen unscheinbaren Flur, sondern mitten hinein in eine Adult Videothek. Links und rechts reihen sich meterweise VHS-Kassetten (jawohl, VHS – Nostalgie pur!) mit Filmtiteln, die man besser nicht laut ausspricht, schon gar nicht, wenn Oma mitliest. Ich stolpere also zwischen „Erotic Adventures Volume 7“ und „Leather Lovers Unlimited“ hindurch und frage mich, ob ich wirklich noch den Drang verspüre, die Toilette zu benutzen.
Doch die Neugier siegt. Hinter der letzten Regalreihe finde ich schließlich die Tür. Drinnen: eine Schale mit Kondomen und ein Schild, das freundlich, aber unmissverständlich mahnt: „Use Condoms.“ Aha. Praktisch gedacht – aber ein bisschen befremdlich, wenn man eigentlich nur mal kurz musste.
Einen Videorekorder im Klo habe ich immerhin nicht entdeckt – vielleicht war das das einzige Gerät, das endgültig ausrangiert wurde. Jedenfalls verlasse ich den Raum mit dem Gefühl, auf meinem Toilettengang einen Ausflug in eine Parallelwelt gemacht zu haben. Watson Lake – du weißt wirklich, wie man bleibenden Eindruck hinterlässt.
Kaum ist die Uhr auf 11 gesprungen, rollen wir schon wieder über den Asphalt. Die ersten 20 Kilometer bleiben wir noch brav auf dem Alaska Highway, bis wir an der Junction 37 den Blinker setzen und feierlich auf den legendären Stewart-Cassiar Highway abbiegen. Alle, die wir unterwegs getroffen haben – von Whitehorse bis Watson Lake – waren sich einig: „Der Stewart-Cassiar ist der Hammer! Da gibt’s so viel zu sehen, ihr werdet begeistert sein!“

Also gut, Erwartungen hoch, Kamera scharf, Augen offen – und was präsentiert sich uns? Bäume. Links Bäume, rechts Bäume, vorne Bäume, hinten Bäume. Kurzzeitig fühlten wir uns wie in einer Endlosschleife von „Jurassic Park – die Waldversion“. Nur dass hinter jedem Busch kein T-Rex hervorspringt, sondern… noch mehr Bäume.
Nicht falsch verstehen: Das satte Grün und die gelben Herbstfarben haben schon etwas Magisches. Aber wenn man gerade von spektakulären Panoramen am Dempster Highway kommt, wirkt das hier ungefähr so aufregend wie ein Tatort ohne Leiche.
Also sitze ich da, schaue raus und denke: Na gut, Stewart-Cassiar, vielleicht brauchst du einfach ein bisschen Zeit zum Warmwerden. Vielleicht kommt gleich noch die große Überraschung. Oder eben noch mehr Bäume.
Eigentlich wollten wir am Boya Lake übernachten – ein See, der in sämtlichen Reiseberichten als „Postkartenmotiv in Echtzeit“ beschrieben wird. Doch wir wollen noch ein wenig weiter fahren, also dachten wir: Na gut, wenigstens mal gucken fahren! Schließlich will man ja wissen, was man verpasst.

Und tatsächlich: Wow! Schon bei der Einfahrt zum Campground funkelt der See zwischen den Bäumen hervor wie ein übergroßer Smaragd. Das Wasser glitzert so verführerisch, dass man sofort reinspringen möchte – wenn man nicht wüsste, dass es ungefähr die Temperatur eines Kühlschranks hat. Die Lage ist traumhaft, die Stellplätze idyllisch, das Ganze könnte direkt als Kulisse für einen Kanada-Werbespot durchgehen.

Doch dann der Realitätsabgleich: Wir spazieren zu den sanitären Anlagen. Und was erwartet uns dort? Ein „Toilettenhäuschen“, das diesen Namen nur im weitesten Sinne verdient. Keine Türen, keine Wände – eher eine Art Thron unter freiem Himmel. Willkommen im Open-Air-Klo, wo die Natur nicht nur Kulisse, sondern gleich Teil des Raumkonzepts ist.
Und das Beste? Hier braucht man garantiert keine Duftsprays. Einmal tief durchatmen, und der Wind erledigt den Rest. Man könnte fast sagen: Nachhaltigkeit in ihrer reinsten Form. Wer braucht schon Komfort, wenn man stattdessen den Luxus hat, bei seinem Geschäft direkt in die Baumwipfel zu schauen?

Mittags um 13 Uhr rollen wir in Jade City ein – ein „Ort“ mit gerade mal zwölf Einwohnern, aber einem Namen, der klingt, als wäre er mindestens die Hauptstadt von Mittelerde. Hier dreht sich alles um den grünen Edelstein, und rund um den Jade-Store rattern die Maschinen fleißig, als würden sie direkt am Schatz der Nibelungen arbeiten. Angeblich liegt hier, ein paar Kilometer nördlich, das größte Jadevorkommen der Welt. Ob das stimmt, können wir nicht überprüfen, aber spektakulär klingt es auf jeden Fall.
Im Shop selbst funkelt es an allen Ecken: kunstvoll bearbeitete Skulpturen, feiner Schmuck, kleine Figuren – alles aus dem sagenumwobenen Stein. Wir schlendern zwischen den Vitrinen umher, lassen uns verzaubern und wissen: Ohne Souvenir kommen wir hier nicht raus. Am Ende packen wir zwei richtig coole T-Shirts ein, die uns künftig an diesen ungewöhnlichen Stopp erinnern werden.

Und dann das Highlight für den Schwaben in mir: Gratis-Kaffee! Eine kleine Bar, Self-Service, dampfende Kannen – ein Traum. Ich greife zu, breite Grinsen inklusive. Stefan schüttelt lachend den Kopf, als ich triumphierend rufe: „Da freut sich der Schwabe!“ Der Kaffee schmeckt herrlich, und die Kombination aus heißem Koffein und gratis macht ihn gleich doppelt so gut.
Jade City mag winzig sein, aber es hat uns definitiv einen bleibenden Eindruck hinterlassen – ein Ort voller Glanz, Handwerkskunst und, na ja, kostenlosem Koffein-Glück. Frisch gestärkt und um ein paar T-Shirts und Anekdoten reicher setzen wir unsere Fahrt auf dem Stewart-Cassiar fort.

Nach einer halben Stunde sind wir wieder in voller Fahrt auf dem Highway. Links und rechts säumen die Straße Warnschilder, die uns eindringlich vor der hiesigen Tierwelt warnen: „Achtung Bär!“ – „Achtung Elch!“ – „Achtung Rehe!“ Eigentlich fehlt nur noch „Achtung Yeti!“, dann wäre die Sammlung komplett. Doch trotz aller Schilder, die uns praktisch versprechen, dass hinter jeder Kurve ein Grizzly oder zumindest ein Elch lauert, bleibt die Straße leer. Kein Tier weit und breit. Offenbar haben alle Waldbewohner heute frei genommen.
Um 15 Uhr erreichen wir Dease Lake – einen dieser kleinen Orte, die aussehen, als hätte man sie nur deshalb gegründet, damit Reisende tanken, einkaufen und ihre Kaffeevorräte auffüllen können. Wir erledigen alles im Schnellprogramm: Tank voll, ein paar Snacks aus dem Supermarkt gegriffen, und weiter geht’s. Schließlich liegen nur noch zwei Stunden Fahrt zwischen uns und unserem heutigen Campground.
Die Tiere lassen sich weiterhin nicht blicken, aber dafür entschädigt die Landschaft. Immer wieder tauchen die Berge vor uns auf, mal geheimnisvoll im Dunst, mal leuchtend im herbstlichen Sonnenlicht. Die Wälder tragen ihr goldenes Festtagskleid, und die Farbenpracht ist so überwältigend, dass wir fast vergessen, dass wir eigentlich gerne noch einem Elch zugewinkt hätten.
Gegen 17:30 Uhr rollen wir schließlich in den Kinaskan Lake Provincial Park ein. Kaum Verkehr, kaum Betrieb – nur ein paar Stellplätze sind belegt. Wir haben Glück und ergattern einen Platz direkt am Wasser. Der See liegt ruhig vor uns, eingerahmt von den Bergen, die sich im Abendlicht von ihrer schönsten Seite zeigen.
Hier merken wir auch deutlich: Wir sind jetzt in British Columbia. Das Yukon-Luxusmodell „Holz inklusive“ ist passé – hier wird für Feuerholz bezahlt. Und auch die unkomplizierte Selbstregistrierung fällt weg. Stattdessen läuft alles etwas „korrekter“. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, der uns daran erinnert, dass wir nicht mehr im wilden Yukon, sondern in der nächsten Provinz angekommen sind.

Die Atmosphäre am Kinaskan Lake Provincial Park ist eigentlich herrlich entspannt – bis ein Pickup neben uns hält und die Idylle kurz unterbricht. Eine Frau in ihren Fünfzigern steigt aus, bewaffnet mit Block und Stift. Sie notiert unser Kennzeichen und die Stellplatznummer, dann folgt die Frage: „Your name?“ Ich beginne artig zu buchstabieren, so wie man es in Nordamerika eben gewohnt ist: „Bohm – wait, I spell that for you: B-O-E-H-M.“ Sie runzelt die Stirn, schaut mich an und sagt in akzentfreiem, aber unfreundlichem Deutsch: „Dann sagen Sie doch gleich Böhm“, sagt sie unfreundlich. Äh – bitte was? Warum hat sie nicht gleich gesagt, dass sie Deutsch spricht? Ich wollte doch nur höflich sein. Na ja, immerhin erfahren wir so, dass der Platz $20 kostet, das Feuerholz $8 – macht zusammen $28. Ein stolzer Preis für ein bisschen Holz in einer blauen Kiste und einen Stellplatz ohne besonderen Luxus. Ach, wie ich die Freundlichkeit und Lockerheit der US-Amerikaner vermisse.

Aber genug von Gebühren und Bürokratie – jetzt wird’s endlich kulinarisch! Unser erstes echtes Campground-Steak steht an, und das Ding ist ein Monster: 600 Gramm Ribeye, so groß, dass es fast den Grill sprengt. Stefan ist in seinem Element, der Grill raucht, das Holz knistert – und schon nach 20 Minuten duftet es nach Fleisch, Paprika und karamellisierenden Mini-Karotten. Wir gönnen uns dazu ein frisches Yukon Brewery Bier – ein Abendessen, wie es im Campingführer stehen könnte.
Das Dinner war einfach perfekt. Satt, glücklich und ein bisschen stolz auf unser improvisiertes Luxusmenü, machen wir noch einen Spaziergang runter zum See. Die Sonne ist gerade verschwunden, die Berge spiegeln sich im Wasser, und zwei Enten ziehen gemächlich ihre letzten Runden. Stefan steht am Ufer mit einem Bier in der Hand und sieht aus, als wäre er gerade aus einer Bierwerbung entlaufen. Ich dagegen bin nur noch bettreif – satt, müde und zufrieden.

Während Stefan die (immer noch tierfreien) Fotos des Tages sichert, falle ich schon ins Reich der Träume. Morgen wartet Hyder in Alaska auf uns – mit etwas Glück sogar mit Bären am Fish Creek. Ob wir sie wirklich sehen? Mal sehen… gute Nacht, Abenteuerland!
