Dempster Delight: Atemberaubende Ausblicke, Autowäsche
und eine gigantische Zimtschnecke
Trotz der eher kurzen Nacht – man könnte sie auch als eine Mischung aus Schlaf, Lachkrämpfen und nächtlichem Roadtrip im Schlafanzug bezeichnen – sind wir am Morgen erstaunlich wach. Offenbar ersetzt die klare Bergluft jede Espressomaschine. Noch bevor der Wasserkocher auf dem Herd pfeift, fühlen wir uns wie frisch aufgeladen.
Beim Frühstück möchten wir uns nicht mit einer schnöden Aussicht auf den Parkplatz zufriedengeben. Nein, wenn schon, dann die volle Panoramakulisse! Also brechen wir auf und rollen zurück hinauf zum Tombstone Mountain Aussichtspunkt – unser altbekanntes Highlight von vor zwei Tagen. Schließlich schmeckt Toast mit Marmelade doppelt so gut, wenn man ihn mit Blick auf endlose Täler und Berge isst, die gerade in goldrotes Morgenlicht getaucht werden.
Der Sonnenaufgang ist ein Schauspiel für sich. Der Himmel glüht, als hätte jemand einen Eimer Farbe ausgeschüttet – von Orange bis Rosa alles dabei. Der Duft von frischem Kaffee zieht durch den Camper, und das Knistern des Gasherds mischt sich mit unserem Frühstücksgeklapper. Ein einfaches Mahl aus Toast, Käse, Marmelade und Müsli – aber an diesem Ort wirkt es wie ein Fünf-Sterne-Menü mit VIP-Aussicht.

Gestärkt, zufrieden und voller Vorfreude rollen wir um 9 Uhr weiter. Das heutige Ziel: Whitehorse. Auch wenn die Natur uns verführt, an jeder zweiten Kurve anzuhalten, haben wir noch einen praktischen Punkt auf der To-do-Liste: die Reifen. Nach den kleinen „Abenteuern“ der letzten Tage wollen wir in Whitehorse unbedingt Fraserway einen prüfenden Blick auf unsere Gummis gönnen. Schließlich beruhigt es, zu wissen, dass die Räder, die uns durchs Nirgendwo tragen, fit für die nächsten Etappen sind.
Die Fahrt nach Süden verspricht aber nicht nur Werkstatt-Realität, sondern auch noch einmal landschaftliche Schönheit in XXL. Ein bisschen Abenteuer, ein bisschen Pflichtprogramm – und wir sind gespannt, was der Tag diesmal für uns bereithält.

Nachdem wir Tombstone Mountain hinter uns gelassen haben, öffnet sich vor uns ein Naturkino in Überbreite. Die Straße zieht sich wie ein hellgraues Band durch eine Landschaft, die aussieht, als hätte jemand alle Herbstfarben gleichzeitig in den Mixer geworfen und dann großzügig über die Hügel verteilt. Goldgelb, sattrot, tiefgrün – alles leuchtet im Sonnenlicht, als stünde die Natur kurz vor einer großen Premiere.
Wir fahren nur langsam, fast schon im Schritttempo, weil die Szenerie einfach zu schön ist, um achtlos daran vorbeizurollen. Jeder Kilometer bringt neue Überraschungen: weite Täler, die sich wie Teppiche ausrollen, und Berge, deren Gipfel im Morgenlicht pink und orange schimmern. Manchmal glitzert ein Fluss oder See dazwischen auf – so klar, dass man meint, die Landschaft würde sich darin noch einmal spiegeln, nur schöner.

An einer Stelle reißt uns der Oglivie River völlig aus dem Gleichgewicht der Worte. Der Fluss liegt spiegelglatt da, als hätte jemand Glas darüber gegossen. Darin verdoppeln sich die Berge – einmal Realität, einmal perfekte Kopie. Man weiß gar nicht mehr, wohin man schauen soll, nach oben oder unten. Kamera raus, wieder rein, wieder raus – irgendwann beschließen wir, dass wir eh nur einen Bruchteil dessen einfangen können, was sich hier vor unseren Augen abspielt.
Und dann – als Bonus auf diesem Natur-Highway – taucht ein Ptarmigan am Straßenrand auf. Ganz cool, als hätte es im Kalender stehen: „10:15 Uhr, Model-Shooting für Touristen“. Das Schneehuhn bleibt tatsächlich stehen, dreht sich fotogen ins Licht und schaut uns so an, als wolle es sagen: „Kommt schon, ich habe noch einen Termin, macht hin.“ Klick, klick, klick – wir haben unsere Bilder im Kasten.

Die letzten Kilometer vor der Brücke am Klondike Highway fühlen sich wie ein sanftes Ausrollen an. Die Landschaft weitet sich, die Farben werden noch einmal kräftiger, und die Sonne spielt ein letztes Mal mit den Konturen der Berge. Punkt 10:00 Uhr rollen wir über die Brücke, die das Ende des Dempster markiert. Ein bisschen Wehmut schwingt mit – dieser Highway war ruppig, fordernd und gnadenlos ehrlich, aber gleichzeitig so wunderschön, dass man ihn nicht vergisst.
Und während wir auf den Klondike Highway einbiegen, wissen wir: Unser Truck ist vielleicht staubverkrustet, unsere Reifen angeschlagen – aber unsere Köpfe und Herzen sind randvoll mit Bildern, die man kein zweites Mal sieht.

Kaum zehn Minuten sind wir zurück auf dem Klondike Highway, da lacht uns schon ein Schild verheißungsvoll entgegen – Scenic Viewpoint. Na klar, wir halten an. Schließlich haben wir ja noch nicht genug Fotos (Ironie aus). Ein kleiner Pfad führt uns durch hohes Schilfgras bis zum Klondike River.
Wir streifen durch das Schilf unfd kommen dann zu dem ruhigen Fluss, eingerahmt von Schilf und goldgelben Büschen. Aber genau das macht es aus. Die Stille. Das Rascheln des Grases im Wind. Der Geruch von feuchter Erde.
Wir vertreten uns die Beine, lassen die Kameras ein wenig arbeiten und merken wieder, dass es nicht immer das große Drama braucht. Manchmal sind es die kleinen Pausen, die den Roadtrip perfekt abrunden – diese fünf Minuten, in denen nichts passiert, außer dass man die Natur einfach auf sich wirken lässt.

Unser nächster Halt führt uns zum idyllischen Gravel Lake. Der See liegt ruhig in der Landschaft, als hätte ihn jemand mit einer Glasscheibe abgedeckt. Die Oberfläche ist beinahe spiegelglatt, und die herbstlichen Farben der Büsche und Bäume rundherum reflektieren darin wie in einem Gemälde. Wir können es kaum erwarten, die Kameras zu zücken, und schießen Foto um Foto, während die Stille uns umfängt. Für einen Moment vergessen wir die Straße, die vor uns liegt, und genießen einfach nur diese perfekte Kulisse – so ein Ort ist der Inbegriff von Roadtrip-Magie.

Widerwillig reißen wir uns los, denn der Highway ruft. Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt taucht die Moose Creek Lodge am Straßenrand auf – oder besser gesagt: ihre verschlossene Eingangstür. Ein Schild verkündet trocken: „Closed for the Season“. Na toll. Wir hatten uns schon innerlich auf einen gemütlichen Lunch mit heißer Suppe und Kaffee eingestellt, und nun stehen wir vor leeren Veranda-Stühlen. Aber immerhin: wieder ein Grund, irgendwann zurückzukommen.
Moose Creek Lodge
Also weiter, und bald schon erreichen wir Stewart Crossing, die nächste von vielen Flussüberquerungen, die den Klondike Highway prägen. Jede dieser Brücken hat ihren eigenen Charme, und während wir über das Wasser rollen, spürt man förmlich die Geschichte, die sich hier über Jahrzehnte angesammelt hat – von den ersten Siedlern, den Goldsuchern und den Truckern, die diese Route bis heute nutzen. Die Flüsse sind nicht nur landschaftliche Schmuckstücke, sondern auch stille Zeugen der Pionierzeit.

In Pelly Crossing legen wir einen kurzen Stopp ein. Mein Magen knurrt, also gibt’s erstmal eine Banane und einen Kaffee im Selkirk Center – simpel, aber effektiv. Doch kaum haben wir uns die Hände abgewischt, fällt unser Blick auf das, was Stefan schon fast magisch anzieht: eine Münz-Waschanlage.
„Endlich!“, ruft er, „jetzt kommt der Dreck runter!“ Gemeint ist natürlich unser Truck Camper, der inzwischen nicht mehr weiß, dass er ursprünglich mal eine Lackfarbe hatte. Stattdessen trägt er das Erdton-Designer-Outfit des Dempster Highway, das sich wie eine zweite Haut über ihn gelegt hat. Und die Eingangstür? Die quietscht inzwischen so, als würde sie direkt aus einem Hitchcock-Thriller stammen.
Also rein mit den Münzen in den Schlitz und los geht’s. Stefan greift zur Hochdrucklanze, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht, und legt los. Was folgt, ist weniger eine Reinigung als vielmehr eine heroische Wasserschlacht. Der Dreck lacht uns quasi ins Gesicht, verteilt sich stoisch über die Flächen und weigert sich standhaft, das Kunstwerk „Dempster-Patina“ aufzugeben. Schon nach den ersten Sekunden wird klar: Das ist so sinnlos wie ein Laubbläser im Herbststurm.
Natürlich halte ich das Ganze mit der Kamera fest – Beweisvideo inklusive. Schließlich soll später niemand behaupten können, wir hätten uns nicht tapfer bemüht. Nach einer gefühlten Ewigkeit steht unser Camper da wie zuvor – nur, dass der Staub jetzt nicht mehr gleichmäßig, sondern fleckig verteilt ist. Immerhin: die Tür geht wieder auf, ohne dass man die Nachbarschaft mit ihrem Quietschen beschallt.
Stefan wischt sich zufrieden den Schweiß von der Stirn, während ich mir das Lachen kaum verkneifen kann. „Na siehst du“, sage ich, „wenigstens haben wir jetzt den schmutzigsten Camper – in ordentlich gewaschenen Mustern.“
Der nächste große Stopp sind die Five Finger Rapids. Schon die Namen klingen nach Abenteuergeschichten aus alten Goldgräberzeiten – und genau das sind sie auch. Diese Stromschnellen machten einst den Schaufelraddampfern das Leben schwer. Von den fünf Strömungskanälen war nur einer halbwegs passierbar – mit Seilwinden, Schweiß und Gebeten. Heute können wir bequem vom Aussichtspunkt aus auf die Rapids hinabschauen. Den 1,5 Kilometer langen Trail sparen wir uns großzügig und schießen unsere Fotos lieber von oben. Und dann, als ob die Natur noch ein Highlight aus dem Ärmel zaubern will, sehen wir am anderen Ufer eine Grizzly-Mama mit zwei tapsigen Jungbären. Ein Moment, der uns fast ehrfürchtig verstummen lässt.

Weiter geht es, und Fox Lake setzt noch einen drauf. Der See liegt eingebettet zwischen Bergen, die im Sonnenlicht wie gemalt wirken. Wir halten natürlich an, laufen ein Stück und machen Fotos. Nur die Elche, vor denen die Schilder am Straßenrand warnen, lassen sich nicht blicken. Stattdessen entdecken wir einen hübschen Vogel, der sich fotogen in Szene setzt – fast so, als wolle er die Rolle des „Wildlife-Models“ übernehmen.
Und dann geschieht es: Breaburn Lodge! Ein großes Schild am Straßenrand verkündet stolz: World Famous Cinnamon Buns. Wer kann da widerstehen? Ich jedenfalls nicht! „Anhalten! Sofort!“, rufe ich mit der Entschlossenheit eines Schatzsuchers, der gerade die X-Markierung auf der Karte gefunden hat.
Wenige Minuten später stehe ich drinnen und bekomme ein Gebäckstück überreicht, das eher aussieht wie eine Mischung aus Ziegelstein und Brotlaib, sorgfältig getarnt unter einer dicken Schicht aus Zucker und Zimt. Das Ding ist so groß, dass es locker als Ersatzrad durchgehen könnte.
„Ten Dollars, please“, sagt der Mann hinter der Theke. Ich zögere kurz, denke mir aber: Für Weltruhm zahlt man eben seinen Preis. Stefan schaut derweil schon mit glänzenden Augen auf das Gebäck, aber nicht, weil er es essen will – sondern weil er sich jetzt schon ausmalt, wie ich mich mit diesem Monster von Zimtschnecke blamieren werde.

Und natürlich hat er recht: Der Versuch, dieses Ding würdevoll zu essen, scheitert grandios. Schon nach dem ersten Bissen sehe ich aus, als hätte ich in einem Schneesturm ohne Schal überlebt – Zucker im Gesicht, Zimt an den Fingern, klebrige Spuren auf der Kleidung. Stefan kringelt sich vor Lachen und meint: „Du hättest vorher vielleicht mal fragen sollen, wie groß so eine Cinnamon Bun ist.“
Aber was soll ich sagen? Lecker war sie. Und das Beste: Das Riesenteil begleitet uns noch tagelang. Jeden Morgen ein Stückchen, jeden Abend ein Restchen – und ich glaube, wir hätten auch den gesamten Camper damit tapezieren können, wenn wir gewollt hätten.
Braeburn Lodge
Unsere Fahrt vom Abzweig des Dempster Highways zurück nach Whitehorse war ein Fest für die Augen – strahlend blauer Himmel, knackige Herbstfarben und eine Landschaft, die selbst Postkarten neidisch machen würde. Schon kurz nach dem Start lockten uns die ersten Fotostopps, und wir geben uns der Versuchung nur allzu gerne hin. Gravel Lake spiegelt die goldgelben Bäume im klaren Wasser, und wir verbringen einige Zeit damit, einfach nur zu schauen und zu genießen.
Gegen 18 Uhr erreichen wir endlich Whitehorse. Die Sonne steht schon tief, taucht die Wälder in goldenes Licht, als wir auf den Caribou RV Park rollen. Der Platz liegt etwas außerhalb der Stadt, mitten im Wald, und wirkt fast wie ein kleines Refugium – ruhig, grün, abgeschieden. Und das Beste daran: Wir sind die einzigen Gäste! Welch ein Luxus, nach den turbulenten Tagen auf dem Dempster Highway plötzlich absolute Ruhe zu haben.

Der Besitzer, ein freundlicher Schweizer, begrüßt uns mit einem breiten Grinsen und dieser charmanten Mischung aus Gelassenheit und Präzision, die man irgendwie sofort mit der Schweiz verbindet. „Sucht euch einfach einen Platz aus, ihr habt ja die freie Wahl“, sagt er, als wäre es das Normalste der Welt, einen ganzen Campground für sich allein zu haben. Er gibt uns außerdem noch einen praktischen Tipp: „Vor 22 Uhr duschen – sonst könnte es ungemütlich kalt werden.“ Okay, notiert.
Wir parken unseren Truck Camper unter hohen Bäumen, stellen Tisch und Stühle raus und genießen für einen Moment das Gefühl, angekommen zu sein. Kein Lärm, kein Verkehr, kein anderer Camper – nur wir, die Stille und das Knistern der Blätter im Wind. Fast wie ein exklusives Privat-Resort mitten in der Wildnis.
Caribou RV Park
Doch dann zieht es uns noch einmal ins Zentrum von Whitehorse. Nach den langen Kilometern auf dem Klondike Highway haben wir uns etwas Richtiges verdient – und wo könnte man besser einkehren als im Dirty Northern Public House? Dort hatten wir schon bei der Ankunft so fantastisch gegessen, dass die Entscheidung diesmal gar nicht schwerfiel. Kaum sitzen wir, herrscht wieder dieses gemütlich-quirlige Kneipenfeeling: Ziegelwände, flackernde Lichterketten, Stimmengewirr und der Duft von Burgern, Pizza und frisch gezapftem Bier in der Luft. Ein bisschen fühlt es sich an, als wären wir in einer Filmszene – irgendwo zwischen „Roadmovie“ und „kleiner Geheimtipp der Locals“.

Wir bestellen Burger und Bier, und schon beim ersten Schluck Craft Beer lehne ich mich zufrieden zurück. Stefan grinst, als sein Burger kommt – dick, saftig, mit allem Drum und Dran, serviert auf einem Holzbrett. Ich gönne mir ebenfalls einen Burger, der so groß ist, dass man ihn eigentlich nur mit Bauhelm und Gabel anpacken könnte. Herrlich. Während draußen die Lichter von Whitehorse funkeln, fühlen wir uns genau am richtigen Ort: satt, zufrieden, und mit diesem wunderbaren Gefühl, mitten in einem Abenteuer zu stecken.
Nach dem Essen drehen wir noch eine kleine Runde durch die Stadt – allerdings mehr so in praktischer Mission. Erster Stopp: Walmart, wo wir ein paar Basics nachfüllen. Danach ab zu Starbucks – nicht wegen des Kaffees (okay, ein Latte darf es dann doch sein), sondern wegen des Internets. Endlich wieder Verbindung zur Außenwelt! Ein paar Nachrichten an die Familie, ein kurzer Blick in die Nachrichten, ein Foto hochladen – und schon fühlen wir uns wieder ein kleines bisschen „angeschlossen“. Zum Abschluss geht’s noch zu Save-On-Foods, um die Vorräte für die kommenden Tage zu ergänzen.
Dirty Northern Public House
Gegen 21:30 Uhr kehren wir zurück auf unseren Stellplatz im Caribou RV Park. Es ist still, fast unheimlich still – kein anderer Camper weit und breit, nur wir, die Bäume und das gelegentliche Rascheln im Unterholz. Stefan packt sofort die Festplatten aus und beginnt, die Unmengen an Fotos des Tages zu sichern. Ich dagegen habe längst den Kampf gegen die Müdigkeit verloren. Eingekuschelt im Camper falle ich binnen Minuten in den Schlaf, während draußen die Nacht über Whitehorse hereinbricht.
Morgen wartet Fraserway – und mit ihnen hoffentlich die erlösende Antwort auf die große Frage: Sind unsere Reifen noch reisetauglich oder sind wir längst ein rollendes Risiko?
Um 21:30 Uhr sind wir wieder zurück am Campground. Stefan sichert noch die Fotos, während ich längst im Land der Träume bin. Morgen geht’s zu Fraserway – mal sehen, was die Profis zu unserer abenteuerlichen Reifen-Geschichte sagen.