Einmal Amishland und zurück
Zwischen Pferdekutschen und Harley-Davidson
Unser letzter voller Reisetag beginnt wie immer mit einem Kaffee und dem leisen Knistern von Packpanik im Hintergrund. Doch bevor die Koffer endgültig zuplatzen und wir Philadelphia Lebewohl sagen, nutze ich endlich die Gelegenheit, unser stylisches Apartment – einst ein altes Fabrikgebäude mit Loft-Vibes – auch von außen abzulichten. Besser spät als nie.

Dann geht es los: Auf nach Lancaster County , in das Herz des „Amish Country“. Für mich ist es fast so etwas wie eine kleine Rückkehr. Mein erster Kontakt mit der Welt der Amish war – wie bei vielen – über Hollywood: „Der einzige Zeuge“ mit Harrison Ford. Schon damals hat mich diese stille, entschleunigte Lebensweise fasziniert. Keine Elektrizität, keine Eile, kein WLAN – dafür viel Gemeinschaft, Handwerk, Pferde und ein beeindruckender innerer Frieden.
Und wie das Leben so spielt: Unsere Beziehung zu den Amish ist über die Jahre gereift. 2008 übernachteten wir zum ersten Mal bei einer amischen Familie, 2010 wurden wir sogar zu einem privaten Dinner eingeladen, und 2014 wurden wir erneut bekocht – jedes Mal ein unvergesslicher Einblick in eine Welt, die scheinbar stehen geblieben ist, aber gleichzeitig tief beeindruckt. (Wer neugierig ist: Die vollständigen Berichte dieser Reisen findest du unter den Links zu den jeweiligen Seiten)
Kaum hatten wir Lancaster erreicht, war es, als hätte jemand das Radioprogramm auf Zeitreise gestellt – und zwar zurück ins 19. Jahrhundert. Plötzlich waren wir mittendrin in einer anderen Welt. Nicht im übertragenen Sinne, sondern wirklich: Asphaltstraßen wurden zu Pferdekutschenrouten, Autos standen plötzlich Schlange hinter Buggys, und überall glitzerte frischer Schnee in der Sonne, als würde auch das Wetter sagen: Willkommen im Bilderbuch.

Die ersten Buggys entdeckten wir direkt am Straßenrand. Schwarze, kastenförmige Wagen auf filigranen Speichenrädern, gezogen von hochglänzenden Pferden – mal braun, mal pechschwarz – mit entschlossenem Trab und dampfendem Atem. Und ja, der berühmte orangefarbene Warndreieck-Aufkleber auf der Rückseite ist nicht nur ein Klischee – der ist wirklich an jedem Buggy. Sicherheitsvorschrift trifft Jahrhunderte alte Tradition.
Die „Parkplätze“ vor Supermärkten und Märkten? Keine Asphaltfläche voller SUVs, sondern eine Reihung aus Holzpfosten zum Anbinden der Pferde. Neben einem rot gestrichenen Gebäude standen mehr als ein Dutzend Kutschen – ein Bild wie aus einem alten Western, nur mit mehr Ordnung.

Und dann dieses ganz besondere Detail: die Wäscheleine. Überall sehen wir die weißen Farmhäuser mit schlichter Fassade, aber davor flatterten in der frostigen Brise Reihen bunter Kleidung im Wind – Hemden, Röcke, Lätzchen, alles fein säuberlich aufgehängt. Kein elektrischer Trockner, kein Schnickschnack – nur Sonne, Wind und der gute alte Wäscheständer-Ersatz. Authentischer geht’s nicht.

Auch die Umgebung änderte sich schlagartig. Keine glitzernden Wolkenkratzer, keine Werbetafeln, kein Verkehrslärm – nur weite Felder, schneebedeckte Koppeln, Farmhäuser und einfache Holzzäune. Man sieht sofort: Hier lebt man anders. Bewusster. Ruhiger. Vielleicht auch ein bisschen langsamer – aber ganz sicher nicht weniger intensiv.
Selbst der Verkehr folgte neuen Regeln. Immer wieder mussten wir abbremsen, weil ein Buggy gemütlich vor uns herzuckelte. Kein Hupen, kein Drängeln – man passt sich einfach an. Denn hier ist das Pferd König, und wir sind nur Gäste. Es war fast, als würde jemand sagen: „Willkommen im Amish Country. Handy bitte in den Flugmodus – hier zählt noch das echte Leben.“
Amish Country
Unser Weg führt uns nach Intercourse – und ja, man kann diesen Ortsnamen nicht ohne ein Grinsen aussprechen. Wer jetzt allerdings frivole Gedanken hat, wird spätestens nach zehn Minuten zwischen handgemachter Marmelade, gestrickten Topflappen und Amish-Stoizismus eines Besseren belehrt. Intercourse ist pure Idylle – und unser Ziel ist das Kitchen Kettle Village , eine Art liebevoll arrangiertes Mini-Dorf voller kleiner Läden, Handwerkskunst und kulinarischer Versuchungen.

Die meisten Gebäude sehen aus, als hätte man sie direkt aus einem Bilderbuch ausgeschnitten: Veranda, Schaukelstuhl, Fenster mit Vorhängen, Schnee auf dem Dach. Dazu schieben Noah und Emilia in ihren Bollerwagen-Versionen durch die gepflasterten Wege und fühlen sich wie Lieferhelden auf Mini-Mission.
Nicht alle Läden haben geöffnet – Winter eben – aber der wichtigste ist offen: Der Jam & Relish Kitchen . Und der hat es in sich. Hier brodelt, zischt und duftet es. Hinter der Glasscheibe sehen wir Amish-Frauen beim Einkochen von Chutneys, Gurken, Dips und Soßen. Und davor? Dürfen wir alles probieren. Wirklich alles. Von Honigsenf über Kirsch-Chili-Konfitüre bis hin zu Pickled Chow Chow (das ist kein Hund, sondern süß-sauer eingelegtes Gemüse). Noah hat seinen Einkaufswagen schneller voll als ich „Sweet Pepper Relish“ sagen kann.

Im Inneren des Shops reiht sich Glas an Glas – fein säuberlich gestapelt, etikettiert, sortiert. Es ist ein Paradies für alle, die irgendwann mal im Leben „Ich liebe Vorratsschränke“ gesagt haben. Natürlich wandern einige Gläser in unseren Korb. Und natürlich sagt Stefan beim Rausgehen: „Das wird alles wieder in den Koffer gequetscht, oder?“ – Richtig erkannt, Captain Übergepäck.
Jam- & Relish Kitchen
Dann geht’s weiter ins Harvest Café – warm, gemütlich, und innen eine Mischung aus Oma-Küche und amerikanischem Roadhouse. Das Menü liest sich wie ein kulinarisches Heimatlied: Ich bestelle Fish & Chips, goldgelb, knusprig, auf dem Punkt. Stefan nimmt den Smokehouse Burger – eine fleischgewordene Liebeserklärung an Barbecue. Nadine wählt ein Sandwich, klassisch, solide, mit Salat und Bacon. Die Kinder? Chicken Nuggets. Verlässlich wie Sonnenaufgang. Und Oli wagt sich an einen Hot Dog mit allem, was der Kühlschrank hergibt – ein echter Patriot eben.
Kurz gesagt: Wir waren satt. Glücklich. Und bereit für den nächsten Halt – aber nicht, ohne nochmal schnell an der Kasse zu schauen, ob man die Apfel-Zimt-Butter vielleicht auch im Sechserpack bekommt. Nur so. Für die Vorratsschublade.

Nächster Halt: Bird-in-Hand Farmers Market – ein Ort, an dem der Begriff “regional einkaufen” eine ganz neue Dimension bekommt. Das Gebäude selbst sieht aus, als hätte es schon Generationen von Marmeladengläsern kommen und gehen sehen. Breite Holzveranda, große Fenster, unter dem Dach eine kleine Glocke – und vor dem Eingang parken nicht nur Autos, sondern auch echte Amish-Buggys mit Pferd und allem drum und dran. Die Mischung aus Pick-up und Pferdestärken macht’s aus.
Drinnen herrscht eine Art kontrolliertes Chaos aus Gebäckständen, Käsetheken, Wurstverkauf und Handarbeitsnischen , die direkt aus einem Pinterest-Board für Landidylle stammen. Es gibt Quilts, Körbe, getöpferte Schüsseln, Seifen mit Lavendelduft – und natürlich hausgemachte Fudge in mindestens zehn Varianten. Der Stand mit den Mini-Pretzels zieht besonders Noah magisch an (okay, auch mich). Emilia lässt sich in den Kinderwagen zurückfallen wie ein müder Einkaufsprofi und schaut sich die Welt lieber im Vorbeischieben an.

Ein Highlight sind die Shops direkt nebenan , in kleinen Nebengebäuden mit viel Charme und dekorativem Weihnachtskitsch selbst im Januar. Vor einem Haus steht eine riesige Weihnachtskrippe im Schnee, ein paar Meter weiter ein Schlitten mit Kuscheltieren, Lichterketten und – warum auch nicht – ein überdimensionaler Schneemann. Emilia bleibt vor einer blinkenden Rentierfigur stehen und scheint ernsthaft zu überlegen, ob man den mitnehmen könnte.
Die eigentlichen Stars sind jedoch die Amish-Handwerker, die hier ihre Produkte verkaufen: Holzspielzeug, Schnitzereien, Körbe, Tischdecken. Alles wirkt wie aus einer anderen Zeit – nicht altmodisch, sondern zeitlos. Kein Plastik, kein Gedudel aus Bluetooth-Boxen – stattdessen echte Gespräche, ein freundliches „Howdy“ und ein ehrliches Lächeln, das selbst bei klirrender Kälte wärmt.
Farmers Market & Shops
Wir schlendern von Stand zu Stand, stöbern, lachen, probieren uns durch – und natürlich wandert wieder etwas in unsere Taschen. Stefan bleibt diesmal gelassen. Vielleicht, weil er weiß: Das war nicht der letzte Stopp dieser Art.
Nächster Stopp: Outlet! Nach so viel Kultur, Landluft und Fudge führt unser Weg geradewegs in das Einkaufs-Eldorado der Region. Schneebedeckte Parkplätze, eine Reihe verlockender Ladenschilder und eine kalte Brise, die uns daran erinnert, dass wir besser schnell entscheiden sollten, ob wir jetzt wirklich noch eine weitere Jeans brauchen (Spoiler: Ja. Natürlich).
Ich entdecke beim Koffercheck – mit geschultem Blick und dem Fingerspitzengefühl einer Duty-Free-Tetris-Expertin – ein winziges, gut getarntes Freiraum-Eckchen . Stefan entdeckt derweil das, was er immer entdeckt: die Sorge, dass wir am Flughafen mit offenen Koffern auf dem Boden sitzen, unterhosenfaltend, um 2,3 Kilo rauszuholen. Ich beruhige ihn. (Wie immer.) „Da passt noch locker was rein.“ (Wie immer.) Ob ich das glaube? Natürlich. Ob ich recht behalten werde? Wahrscheinlich. Ob ich das selbst weiß? Nein. Aber das gehört zum Konzept.

Im Outlet steuert Oli zielstrebig den Hilfiger Store an , kurz rein, kurz umgesehen, zack, bezahlt – der Mann shoppt wie ein Elitekommando. Nadine und ich hingegen verlieren uns im Outlet-Labyrinth , von Yankee Candle bis Columbia , von American Eagle bis Bath & Body Works – und alles dazwischen. Es ist ein bisschen wie Trüffelsuche mit Rabattcode. Man weiß nie genau, was man findet, aber irgendwas ist immer dabei, das dringend mit muss.
Emilia schläft derweil friedlich im Buggy, Noah zählt die Einkaufstüten und Stefan? Der trägt tapfer Taschen und seinen inneren Widerstand mit der Würde eines Mannes, der weiß: Heute verliert er. Aber stilvoll.
Fast hätten wir es vergessen – aber ein letzter Zwischenstopp ist Pflicht : der Harley-Davidson Store in Lancaster . Und was soll ich sagen? T-Shirts mit Pferdekutsche und Harley-Logo! Mehr Pennsylvania geht nicht. Gekauft. Natürlich.

Zum Abschluss lassen wir den Abend im Texas Roadhouse ausklingen – stilecht amerikanisch, mit Steaks und Erdnussschalen auf dem Boden. Nadine und Oli laden uns ein – als kleines Dankeschön für die gesamte Reiseplanung. Stefan und ich stoßen mit eiskalter Cola an und denken: Ja, das war sie – unsere ganz persönliche American Dream Tour.
Texas Roadhouse Lancaster
Morgen geht’s nach Hause. Aber heute? Heute war nochmal ein richtig guter Tag. So einer, bei dem man genau weiß: Das ist der letzte volle Tag – und der muss sitzen. Kein Hetzen, kein Stress, keine langen Fahrten. Nur nochmal tief durchatmen, genießen, shoppen, schlemmen und das tun, was man sich auf Reisen viel öfter gönnen sollte: bewusst langsam machen.
Unser Flug geht erst morgen Abend, also bleibt uns sogar der halbe Folgetag. Luxus pur – zumindest im Reiseplan. In der Realität heißt das: Wir haben genug Zeit, gemütlich nach New York zu rollen, als wären wir auf „Abschiedstour light“, mit offenen Augen für all das, was man beim ersten Vorbeifahren übersehen hat. Noch ein letztes Frühstück im Apartment, noch ein paar letzte Unterwegs-Fotos, noch ein paar letzte Souvenirs, die irgendwie in den Koffer geschmuggelt werden müssen. Und natürlich: noch ein paar letzte kleine Shopping-Abenteuer. Nur ganz kleine. (Sagte ich auch gestern.)
Aber zurück zu heute – dieser vorletzte, goldene Tag. Er war irgendwie alles zugleich: ein bisschen Abschied, ein bisschen Genuss, ein bisschen Wahnsinn mit Einkaufswägen. Und genau deshalb war er so gut. Denn es war alles dabei, was einen gelungenen Reisetag ausmacht: etwas fürs Herz, etwas für den Gaumen – und etwas für das Handgepäck .
Und morgen? Morgen schnappen wir uns den letzten Kaffee „to go“, machen das berühmte „Haben-wir-auch-wirklich-alles“-Blickspiel durch die Wohnung – und rollen dann zurück Richtung Flughafen. Mit leicht wehmütigem Herzen, aber randvoller Speicherkarte und einem Koffer, der sich weigert, sich schließen zu lassen. Wie gesagt: ein richtig guter Tag.
